Hoffnungskrise
- FRAUENBARTH
- 6. Nov. 2024
- 23 Min. Lesezeit
"Ich versteh das einfach nicht. Wir haben doch vorher extra geschaut und alles. Warum passiert das jetzt?"
"Keine Ahnung. Vielleicht will einfach nur jemand Stress machen. Ist doch auch egal. Stört ja nicht."
"Ja, aber was für einen Stress sollte das denn auslösen? Außer, dass es dumm ist?"
Es geht um unser Gildenprojekt in WoW. Die Idee steht schon lange, aber die Umstände haben es bisher nicht möglich gemacht, sie weiterzuverfolgen. Nachdem unsere Rücken uns die letzten Monate wenig Möglichkeit lassen, irgendwas anderes aufzuziehen oder zu arbeiten, beschlossen wir, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, das umzusetzen. Wir brüten jetzt schon seit The War Within über den Einzelheiten und haben die Gilde letzte Woche gegründet. Gab auch keine andere, die so hieß. Haben wir ja vorher extra nochmal nachgeschaut. Waren ja ein paar viele Gedanken und ein bisschen Arbeit und Herzblut für die ganze Konzeptplanung, ect. pp. Prinzipiell ist das auch was, was man uns nicht klauen kann, weil das ja an uns hängt. Jeder kann ja eine Gilde gründen. Wer da dazu kommt, ist ja dann wieder die Sache der Spieler. Wir haben ja selbst so unsere eigenen Beziehungen zu unseren Chars und jeder hat dazu seine eigene Geschichte, also sind auf Dauer auch Youtube-Clips und Shorts angedacht, Twitch ebenfalls (wenn wir das mit dem Internet mal gelöst haben). Also haben wir was vor, was tausende andere vor uns auch schon getan haben. Ein einfaches Vorhaben, das gewissen Regeln folgt und trotzdem Raum für eigene Kreativität lässt. Kann ja nichts schief gehen, oder?
Als ich kurz zuvor einen meiner Twinks (hihi) zur Gilde hinzufügen wollte, habe ich gesehen, dass es jetzt eine zweite Gilde gibt, die genau den gleichen Titel trägt. Inklusive fertiger Website, Discord, ect.
"Ja nichts."
"Ja also was soll das dann?"
"Warum machst du dir drüber Gedanken?"
"Weil's keinen Sinn macht."
Wir führen das Gespräch eine Weile fort, bis ich davon überzeugt bin, dass es ja wirklich keine Rolle spielt und wir einfach unsere nette Idee mit unseren Onlinespielfiguren weiterverfolgen können.
Falls du selbst WoW-Spieler sein solltest und noch allein umher irrst, darfst du mir übrigens auch gern diesbezüglich per Mail schreiben und vielleicht kann ich dich ja bald in unserer Gilde willkommen heißen.
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2.36 Uhr
"Lass uns einfach schlafen jetzt. Ist bei der Stimmung eh besser so."
Seine Worte treffen mich wie ein Fausthieb ins Gesicht. Wir sind uns über Notwendigkeit von zwei Mages in die Haare gekommen. Ihm geht's ums Equipe, mir um die Story. Gestern Abend haben wir uns zwei neue Charakter erstellt und sind gerade am hochleveln. Bei mir wurde es ein weiterer Mage. Arkan. Weil ich sie zum üben hernehmen will. Aber die ist so süß, vielleicht würde ich sie gerne länger spielen und dann wäre Frost die bessere Wahl. Sie könnte auch Arkan bleiben, aber dann müsste die andere auf Feuer wechseln, weil ich keine zwei Arkanmages brauche. Theoretisch könnten sie ja ihre Skillung jederzeit wechseln, aber ich finde, sie sollten sich schon auf eins festlegen. Bin ja ich schon so sprunghaft. Wie soll das denn dann werden, wenn meine - ohnehin schon viel zu vielen - kleinen Helden auch noch entscheiden, ständig ihre Skillung zu wechseln? Er sieht das zeitliche Problem wegen der Ausrüstung, weil sie so halt beide nie ganz gut sein werden, weil die eine der anderen die Zeit nimmt.
Wir sind beide angespannt, weil es uns die letzten Wochen einfach miserabel geht und irgendwie kein Ende in Sicht ist. Ich bin völlig hilflos und weiß mir keinen Rat mehr. Ich kann nur zusehen, wie mein Freund jeden Tag größere Schmerzen leidet und bin dabei selbst noch so sehr mit mir beschäftigt. Irgendwann wird's einfach zu viel. Ich drehe mich um und heule ein bisschen vor mich hin, werfe ihm dann ein patziges "Ich liebe dich." rüber, wofür ich ein: "Kannst dir sparen!", ernte und das "in diesem Ton.", gekonnt überhöre.
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8.00 Uhr
Der Wecker klingelt. Ich lasse ihn klingeln. Keine Regung neben mir. Super. Ich drücke auf Schlummern. Gucci macht nicht mal die Anstalten, ihren Kopf zu heben. Wunderbar.
8.05 Uhr
Der Wecker klingelt und ich stehe auf und schwanke über meinen Freund. Seine Hand schnellt als Stütze nach oben und ich kann mich kurz einhalten, um den Sprung vom Rudelkissen auf den Schlafzimmerboden zu bezwingen. Er hilft mir wortlos. Immer ein schlechtes Zeichen für unser Verhältnis, aber süß, dass er egal wie angepisst er ist oder ich es bin, für mich da ist. Ich gehe ins Bad. Mir ist schlecht und ich fühle mich elend. Ich melde mich kurz bei der Family von Gucci, dass wir uns so zwischen halb elf und elf auf den Weg machen, weil ich weiß, dass es unrealistisch ist, dass wir es vorher schaffen können. Erstmal muss die Dame ihre Morgenrunde drehen, dann braucht mein Freund Frühstück, die Wohnung sieht schon wieder aus wie sau und wir erwarten ein Päckchen, das wirklich wichtig ist. Vielleicht habe ich Zeit, mich mal um die ganzen anderen verlorenen Pakete der letzten Wochen zu kümmern. In einem müssten zwanzig der Zeitschriften sein, in der ich nach ganz vielen langen Jahren mal wieder was veröffentlicht habe. Ist ein Magazin für Tierheilpraktiker und Tierhalter und ich schreibe seit 05/24 eine Hunde-Kolumne. Ist also das Heft mit dem ersten Artikel und einem ganz besonderen Hund als Thema. Da würde ich schon gerne ein Exemplar für mich haben, aber vor allem für die Familie vom Kriegsgott/Monster. Der macht sich nämlich wirklich klasse.
Ich backe die Brötchen nochmal nach. Dafür hab ich eine Heißluftfritteuse - letztes Jahr von unseren Nachbarn geschenkt bekommen. Damit bildet sie das Herz meiner Küche. Daneben steht eine kleine Induktionsplatte, die ich meiner Mama 2015 zu Weihnachten geschenkt habe. Bei mir ist sie natürlich nur in Leihgabe, weil man Geschenke nicht verschenkt. Sie brauchte sie damals glaube ich zum Basteln oder weil das Cerankochfeld mal wieder irgendwas hatte. Bei uns sorgt sie seit 'nem Jahr dafür, dass wir wieder warm essen können. Ich hab nämlich keine gute Beziehung zu Reiskochern. Die überleben nie länger als zwei Wochen. Die Preisklasse scheint hierbei auch keine Rolle zu spielen. Es funktioniert einfach nicht zwischen uns. Manche Sachen muss man als gegeben ansehen. Der Wasserkocher ergänzt mein kleines Arbeitsreich, das Bastis Entspannungsort wäre. Was eigentlich mein Beruf ist, ist sein Feierabend. In der Küche stehen. Dafür wäre es gut, eine zu haben. Immerhin leben wir in einer Wohnung, die einen dafür vorgesehenen Raum hat. Nach aktuellem Stand sollte dieser Zustand im Dezember oder spätestens Januar ein Ende haben, denn nach langem hin und her, haben wir dann doch eine einigermaßen okaye Lösung bei einer Kette gefunden, aber bisher war noch nicht mal jemand zum vermessen da. We will see.
Ich checke schnell die Mails, sehe dass das Päckchen nur noch drei Stops hat und emissionsfrei zugestellt werden wird und überlege mir schon mal einen Schlachtplan, um heute auch wirklich noch an meine Sendung zu kommen. Abfangen ist nie gut und sich 'ne Stunde auf die Treppe vom Vorhaus setzen wäre zwar hier gar nicht so ungewöhnlich, ist im November aber erstens zu kalt und zweitens für meine Wirbelsäule unmöglich. Gut, dass Gucci da ist. Mit der kann man wunderbar auf der Louise auf und ab flanieren.
Ich trinke eine Tasse Kakao und Gucci steht auf. "Gehen wir den Postboten beschatten, ja?" Sie scheint einverstanden. Vermutlich, weil sie Pipi muss. Wir müssen ihn auch gar nicht beschatten, weil er grad mit seinem Fahrrad die Kisseleffstraße hochtuckert und sicherlich noch eine Weile brauchen wird bi der bei uns ankommt. Wird ja wohl der Fahrradtyp sein, wenn dort steht, es wird emissionsfrei geliefert. Wobei... sie haben ja auch E-Autos...
Gucci und ich denken nicht weiter drüber nach, sondern genießen den herbstlichen Vormittag. Momentan fallen mir wieder mehr Hunde im Park auf. Vielleicht waren im Sommer ja einfach alle Hundehalter im Urlaub oder es gibt auf einmal plötzlich hunderte neue. Keine Ahnung. Die gehen uns auch herzlich am Hintern vorbei, weil wir gerade in unserer "Wir-Zwei"-Stimmung sind und da bringt man Gucci und mich nicht mehr so leicht raus.
Wir sind schnell und der Fahrradzusteller biegt langsam auf unsere Straße ab. Hab ich also noch ein bisschen Zeit, aber der Hund war ja jetzt schon draußen. Und wartet auf sein Frühstück. Okay. Trump hat seinen Sieg schon gefeiert, bevor die Wahlen ausgezählt waren. Okay. Hatte zwar auf Kamala gehofft, aber wir haben ja bei den Wahlen in Deutschland schon gesehen, was die ungebildeten anrichten und das sind halt leider einfach mehr...
Ich trinke eine Tasse Kakao und versuche mal, meinen Freund zu wecken. Klappt nicht gut. Inzwischen müsste unser Paket fast da sein, also schau ich nochmal runter. Der nette junge Herr steht direkt beim Nachbarn parat und ich kann ihn gleich fragen, ob er zufällig ein Päckchen dabei hat. "Für Barth."
"Ich schau. Aber... Ich hab eigentlich nichts dabei heute. Welche Adresse genau?"
Ich werfe einen Blick die Straße nach unten in der Hoffnung, das DHL Auto oder den Lieferwagen der Ungarn zu erspähen und habe Glück. Vielleicht haben ja doch die es dabei.
"Ne, sorry. Kein Päckchen."
"Ja, gut. Danke dir trotzdem, gell!"
Ich laufe zu unserem Briefkasten und sehe rein, was natürlich keinen Sinn macht, weil der Postbote ja noch beim Nachbarn steht. Zur Sicherheit gucke ich trotzdem noch ins Haupthaus, weil vielleicht hat ja irgendein anderer schon irgendwas irgendwo hingelegt. Passiert hier. Aber Fehlanzeige. Nur dasselbe Päckchen für den lustigen Arzt, der in seinen Praxisräumen raucht und der die Sendungsverpackungen gern im Treppenhaus verteilt. Dieses hat noch Inhalt.
(Hatte dieses Jahr auch schon ein verschlossenes Päckchen von Amazon ohne Inhalt. War auch cool. Wenigstens wurde das zugestellt.)
Ja, was soll ich machen? Ich stell mich zurück ins Tor zu unserem Hinterhof und bestaune das DHL-Auto, das sich in den letzten Minuten keinen Zentimeter bewegt hat. Ich atme tief durch. Wenigstens dieses beschissene Päckchen könnte doch ankommen. Der Tag wird eh schon schwierig genug. Ich weiß jetzt schon, dass wir streiten werden. Und ich hasse das. Er auch. Aber manchmal geht's halt nicht anders. Unsere Chefin aufm toten Berg hat uns immer gesagt, sie mag an uns, dass man so toll mit uns streiten kann. Das gehört zu einer gesunden Beziehung. Also ja, wir haben da oben gestritten, geschrien, geschimpft, ich habe tolle neue Schimpfwörter gelernt, vorwiegend auf ungarisch. Das gibt einfach am meisten her was das angeht. Und heute ist so ein richtiger "Baszd meg!"-Tag. So wie sich mein Körper anfühlt, müsste ich außerdem Richtung Eisprung hingehen und da kann ich sowieso ziemlich schwierig sein (auch für mich selbst), seit ich die Pille komplett abgesetzt habe. Komisch, wenn man mit 30 auf einmal merkt, wie ein normaler weiblicher Zyklus funktioniert. Hat übrigens auch drei Jahre gedauert, bis sich das eingestellt hat. Aber kein Wunder nach 12 Jahren Dauermedikation (+ Lebensumstände + Stresslevel + damit einhergehender Ernährungsstatus).
Und jetzt steh ich da. Im Torbogen. Und schau blöd.
"Frau Barth?" Ich drehe mich langsam nach links. "Ich hab ihr Päckchen doch! Habe gerade im Scanner nachgeschaut. Müsste hier irgendwo drin sein."
So ein Glück! Ich laufe rüber und sehe, wie er pflichtbewusst in seinem Fahrrad kramt. Er findet das Päckchen. "Moment!"
Was denn jetzt?
"Ich schau nur schnell, ob ich noch Briefe für Sie habe!
Nein, keine heute. Schönen Tag noch!" Er übergibt mir mein Päckchen und ich habe mein Erfolgserlebnis des Tages. Ein bisschen zufriedener schleife ich mich wieder nach oben und bereite ein paar Rühreier für Bastis Frühstückssemmel zu. Als das Eiweiß gerade zu stocken beginnt, tappt er an mir vorbei ins Bad. Kein guten Morgen. Von keiner Seite. Und ich habe auch wirklich keine Lust zu reden.
"Verf*ckte Sche*ße! Kann man hier denn nicht mal mehr duschen? Wo ist eine verf*ckte Zange?"
"Wir haben keine verf*ckte Zange!", schreie ich zurück. Fakt. Wir haben keine.
Brauchen würde er sie wohl, weil mir gestern Abend der Wärmeregler von der Dusche abgefallen ist. Ich bereite die Brötchen fertig zu und stelle sie an seinen Platz. Er ist inzwischen wieder im Schlafzimmer. Hörbar genervt trampel ich jetzt also ins Bad, um den dummen Knauf einfach wieder da drauf zu stecken. Muss man halt vorsichtig drehen, dann geht das schon.
"Geh duschen! Hab's repariert!", schreie ich und verziehe mich an meinen Schreibtisch, um mir eine Tasse Kakao zu machen und meine Nachrichten zu checken. Das sind ein paar und bevor ich mich allen widme, husche ich nochmal schnell ins Bad, um nachzufragen, ob er mitgehen will, um Gucci heimzubringen. "Wann müssen wir dort sein?"
"Habe gesagt, wir gehen zwischen halb elf und elf los."
"Wie spät ist jetzt?"
"Zehn Uhr Fünfundvierzig. Auf den Punkt."
"Warum ist denn schon wieder so spät und warum hast du mich nicht geweckt?", er klingt verzweifelt und mir reichts.
"Ich hab's versucht!", schreie ich zurück und verp*sse mich ins Wohnzimmer, um die restlichen Nachrichten zu bearbeiten. Eine neue Sprachnachricht von der süßen Lady, die der Queen herself und Flummi-Hund ein Zuhause schenkt. Die beiden sollten heute um 14.00 Uhr ankommen. Später irgendwann wird Luca noch anreisen. Wir freuen uns prinzipiell auf alle drei, aber heute ist ein ganz schlechter Tag dafür.
"Hallo liebe Jana...", beginnt die Sprachnachricht und ich höre schon, dass die Gute völlig am Ende ist: "du hörst ja, meine Stimme klingt normal nicht so..."
Fazit: Die Queen kommt nicht und damit hätte ich Brunhilde (die wir liebevoll Egy nennen, weil sie so ein bisschen zu Deutsch und ängstlich ist) nicht absagen müssen. Naja, ich kann ihr ja anbieten, doch noch zu kommen...
Wir lieben ja alle unsere Hundefreunde und jeder von ihnen ist ganz großartig auf seine Art und Weise. Und weil alle so speziell und verschieden sind, muss man ein bisschen aufpassen, wer mit dem im Rudel zusammen kommt. Braucht ja schließlich auch jeder seinen Schlafplatz. And the queen is not amused, wenn andere Hunde in ihrem Raum sind. Ihr Raum ist da, wo sie gerade ist. Oder hinschaut. Ich kann sie verstehen, weil der Flummi mit dem sie lebt, schon anstrengend genug für eine alte Dame ist. Deswegen kommen zum Wohle aller nur die Hunde, die sie schon kennt. Und Luca. Weil Luca, einfach Luca.
Gut, die Absage kommt mir ehrlich gesagt trotzdem gelegen. So sehr ich die Zwei auch mag und so leid es mir tut, dass ihre bezaubernde Menschenfreundin so krank ist, dass sie ihre Reiseplanung hinschmeißen muss, bin ich auch froh für ein wenig mehr Luft heute.
Basti ist inzwischen unter der Dusche und sehe nach den Pflanzen. Die Trauermücken haben sich brav in den Knoblauch verzogen und kommen da jetzt dank Feinstrumpfhose auch nicht wieder aus dem Topf. Die restliche Erde ist weitgehend gecleaned. Ein oder zwei Wochen noch und dann müssten wir komplett Mückenfrei sein.
"Du kannst ruhig unter die Dusche kommen! Ich werd dich nicht rausschlagen.", schreit er ausm Bad und ich weiß, dass das ein Versöhnungsversuch ist und ich diejenige bin, die den Tag nicht einfach normal gestartet hat und gerade sehr passiv aggressiv verweilt. Ich kann mir einreden, das ist, weil ich ihm seinen Freiraum lassen will. Das ist Quatsch. Er hat hochgradige Schmerzen, ist auf starken Medikamenten und hat gestern Abend einfach nicht mehr kapiert, worum es mir ging. Es gibt keinen Grund auf ihn wütend zu sein und das bin ich auch nicht. Aber ich bin wütend. Wütend über die Situation, in der wir uns immer noch befinden. Wütend, dass ich hier für alles das zehnfache an Zeit brauche, weil nichts eingerichtet ist. Das alles noch viel umständlicher ist, seit mein Rücken mal für kurze Zeit ganz versagt hat und ich mir seither jede Bewegung gut überlegen muss. Wütend, dass ich nichts essen kann. Weil ich keinen Appetit habe. Weil immer noch kein Kühlschrank da ist. Weil Vorratshaltung dumm ist, wenn keine ordentlichen Schränke da sind. Weil ich seinen Schmerz nicht nehmen kann. Weil alles, was wir anfassen, irgendwie wieder zu Staub zerfällt und weil ich keine Kraft mehr habe, das alles auszuhalten. Und das fühlt sich scheiße an. Weil ich nicht mehr für meinen Mann da sein kann.
Zusammenreißen und dann wird das schon. Hauptsache nicht streiten. Dafür reicht die kraft wirklich nicht mehr und Gucci sollte ja irgendwann mal nach Hause. Ich atme tief durch und gehe ins Bad. Ich quetsche mich an ihm vorbei in die Dusche und drehe mich mit dem Rücken zu ihm. Er fragt mich, warum ich ihn nicht geweckt habe, ich sage, ich hätte es versucht und beginne zu weinen. Es passiert, was passieren muss und wir streiten. Erst in der Dusche, dann beim Anziehen, dann beim Zusammenpacken von Guccis Sachen, beim Haare flechten und am Ende stehen wir voreinander und schreien uns an, dass wir nicht mehr können. Und das ist war. Wir sind am Ende. Alle beide. Und wir wissen keinen Ausweg mehr. Die einzige Info, die wir zu Bastis Zustand haben ist: "Hm, ja, das ist ein blödes Bild. Also ohne Ihren Sport würden Sie heute wahrscheinlich gar nicht mehr laufen können. Aber, naja. so die nächsten fünf Jahre... Und jetzt operieren in dem Alter... Aber ich würd mich langfristig drauf einstellen. Aber das ist nicht schön..."
Zweit- und Drittmeinungen waren leider nicht viel positiver und direkte Hilfe war irgendwie schwer zu bekommen, weil halt keiner so genau weiß, was man tun kann.
Er hat seit Sommer zehn Kilo verloren, was auch für seinen Kopf blöd ist. Er kommt jeden Tag schwerer aus dem Bett, die Phasen in denen er draußen sein kann, werden kürzer und die Tage, an denen er die Wohnung gar nicht mehr verlassen kann, häufen sich. Er ist ein starker, aktiver Mensch, immer auf Sendung, gerne im Herzen des Geschehens. Und jetzt wird er zum Gefangenen seines Körpers, in dem Moment, in dem er das erste Mal in seinem Leben die Chance gehabt hätte, wirklich frei zu werden. Wir kommen aus unterschiedlichen Welten und seine ist für uns als Normalverbraucher nicht vorstellbar.
Die Ungerechtigkeit f*ckt ganz schön hart, nur dass sie keiner drum gebeten hat. Kennt man ja.
Irgendwann um kurz nach elf stehe ich mit einer gestressten Gucci vor der Tür und schreie nach oben, er möge sich doch jetzt beruhigen und keinen Scheiß veranstalten, weil ich wirklich langsam den Hund wegbringen muss und keine Zeit mehr für den Schmarren habe.
"Warte!" Er kommt die Treppe runter, ich geh sie nach oben. "Ich komme mit. Aber ich will nicht reden."
Wir gehen los und wir reden. Aber nicht über das, was uns beschäftigt, sondern über Belanglosigkeiten. Ich sehe, dass ihm jeder Schritt schwerfällt und ich frage mich, ob es gut ist, wenn ich ihm zu oft sage, er solle sich schonen. Das ist bestimmt kein schönes Gefühl, wenn man vom Partner dauernd zu hören kriegt, man wäre irgendwie zu unfähig zum draußen rumlaufen. Ich mein das gar nicht böse, ist halt der Impuls zum Kaputtschonen da. Ich hatte halt die Hoffnung, dass es dadurch irgendwann wieder besser werden würde. Aber aktuell sieht es so aus, als befinden wir uns in einer Abwärtsspirale.
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"Kommt rein, ihr Beiden!" Wir folgen der Aufforderung und Gucci ins Wohnzimmer. "Möchtet ihr was trinken?"
"Gern."
Ich bin verwundert. Basti hat die Guccileute zwar auch sehr ins Herz geschlossen, aber wenn es ihm so schlecht geht, versuchen wir eigentlich immer, schnellstmöglich überall wieder wegzukommen. Wenn wir zuvor gestritten haben, vor allem so heftig wie gerade, sowieso.
Wir bekommen ein Glas Wasser und sitzen einen Moment schweigend da. "Also, meine Frau hat mir das mit eurer Gesundheit erzählt. Wie ist denn das jetzt genau?"
Wir beginnen zu reden und ich merke schon, wie von Basti Druck abfällt. Jemand, der sich mal ernsthaft dafür interessiert, wie es ihm geht. Nicht, weil er irgendwas von ihm will. Diese Leute könnten eh alles von uns haben, sie hätten das nicht nötig. Er erzählt und ich bin so dankbar, dass mal wirklich jemand zuhört.
Wir haben keine Vorbilder. So Fanboyzeugs ist eigentlich nichts für uns, aber es gibt ein paar Menschen, vor denen wir tiefen Respekt und Achtung haben und vor ihrer Lebensführung. Die Guccileute gehören ganz oben auf die Liste. Weil sie sich lieben. Aufrichtig. Weil sie sich gemeinsam etwas aufgebaut haben. Weil sie füreinander da sind. Und weil sie Gucci das beste Zuhause bieten, dass man sich - gerade für eine spezielle Lady wie sie - wünschen könnte.
"Also, ich hab mir da was überlegt. Eine Freundin meiner Tochter ist Osteopathin. Die hat mir vor drei Jahren mal geholfen. Jetzt habe ich wieder Probleme und überlegt, hinzugehen und dann hab ich die Preise angeschaut und meinte zu meiner Frau: Ist schon ganz schön teuer für eine Stunde, oder?
Da hat sie mich gefragt, ob ich weiß, weswegen ich vor drei Jahren dort war. Ich wusste es nicht mehr."
"Das ist das größte Kompliment für einen Therapeuten."
"Genau und deswegen haben wir uns überlegt, dass dir eine Behandlung bei ihr vielleicht helfen könnte, Basti."
Ich werfe einen Blick auf ihn und sehe, wie die Zahlen durchrattern. Zwei Behandlungen würden ein Viertel seines Krankengeldes ausmachen und wir müssen ja auch irgendwie unsere Miete bezahlen und wenigstens versuchen, nicht zu verhungern. Dafür ist es notwendig, sich wenigstens was zu essen kaufen zu können. Auf der anderen Seite kann er mit den Schmerzen und der Übelkeit seit Wochen nicht essen und das Atmen fällt auch täglich schwerer. Ich mache mir große Sorgen. Er hatte immer mal wieder Probleme wegen des Scheuermanns, aber seit Mitte Juni ist es so fatal und so drastisch schlimmer, dass ich mir keinen Rat mehr weiß. Fachärzte sind schwer zu bekommen. Welche, die sich die Zeit nehmen können, sich diesem Bild anzunehmen anscheinend unmöglich zu finden. Ich bin schon mit mehreren Kliniken in Kontakt getreten, aber wie sollte ich ihn denn hinbringen? Die Schmerztherapie hat den frühesten Termin im April und das mit der Eilüberweisung hat irgendwie nicht so funktioniert. Am 13. haben wir den nächsten Hausarzttermin, vielleicht kann da was gemacht werden. Außerdem haben wir ja noch den tollen jungen Arzt von Aqua, der sehr engagiert ist und in dieser Sache aber auch nur bedingt weiterhelfen kann. Symptomatische Behandlung. Mehr ist grad nicht. Und die schlägt nicht gut an.
"Ja, wir sind auf jeden Fall über jeden Tipp dankbar! Ich hab die Woche schonmal eine Empfehlung von einem Piloten bekommen, da wollte ich mal anrufen. Denke, das wird auch eine recht vertrauenswürdige Person sein, weil der Mann passionierter Klavierspieler ist und seine Berufung wirklich lebt und sich deswegen nicht von irgendeinem Sandler behandeln lassen wird."
Außerdem ist dieser Therapeut nur bei etwa 60% des Preises, was für uns immer noch bedeutet, mehr zu haushalten und dafür was zur Seite zu legen, aber immerhin eine erschwingliche Möglichkeit wäre. Nach den letzten missglückten Behandlungen bei Kassen-Physios sind wir allgemein sehr vorsichtig geworden.
"Und wir haben uns überlegt, dass wir euch da gerne unterstützen würden. Ich schick mal den Kontakt rüber. Wohin am besten?"
"Einfach in die Gucci-Gruppe, dann haben wir den beide."
"Super, okay. Müsste da sein. Auf jeden Fall haben wir uns gedacht, dass wir euch gerne unter die Arme greifen würden. Wir können uns immer auf euch verlassen, was unsere Gucci angeht und da sind wir sehr dankbar dafür. Ich hab am Freitag einen Termin bei der Dame und normalerweise müssten zwei Sitzungen ausreichen, damit es dir besser geht. Die Kosten dafür würden wir gerne übernehmen."
Ich sehe rüber zu Basti. Er kämpft mit den Tränen. Ich auch. Und ich verliere. Er bewahrt seine Fassung, kann vielleicht selbst noch gar nicht glauben, was gerade passiert. "Gut, dann lass uns gleich Nägel mit Köpfen machen. Vielleicht kriegst du ja nächste Woche schon einen Termin!"
Er nickt. Ich nicke. Und weine. Und weine. Leise vor mich hin. Weil wir endlich einen kleinen Hoffnungsschimmer haben. Einen Anhaltspunkt. Und Angst. Dass alles noch viel schlimmer wird. Und da ist Dankbarkeit. Dafür, dass uns jemand hilft. Aus aufrichtiger Fürsorge heraus.
"Hey, könnt ihr heut gegen 16.30 mit dem Monster Gassigehen?"
"Klar.", tippe ich zurück und schaue mir dann die Therapeutin an, die meinen Freund mit ihren Healing Hands hoffentlich ein bisschen heilen kann. Nur ein ganz kleines bisschen würde uns schon helfen und ist mehr, als wir erwarten. Nicht schlimmer machen ist allerdings die größte Hoffnung, die wir noch haben.
Die Dame sieht nett aus. Zierlich, die wird eine gute Technik brauchen. Vom Ausdruck her bin ich positiv gestimmt. Die scheint richtig in ihrem Beruf zu sein. Sieht angekommen und zufrieden aus. Ein gutes Zeichen.
Die Tränen kullern immer noch über mein Gesicht und Gucci kommt, um mich drauf aufmerksam zu machen. Sie hat erst jetzt dafür Zeit, weil sie zuvor damit beschäftigt war, Basti beizustehen, seine Gefühle in Schach zu halten.
"Die ist schon was besonderes."
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Wir gehen nach Hause und ich rufe direkt bei der Osteopathin an. "Wie sieht's denn morgen bei Ihnen aus? Da kam gerade eine Absage aufgrund Krankheit rein."
"Morgen ist perfekt!"
Keine Minute, nachdem ich aufgelegt habe, kommt die Bestätigungs-SMS. "Die macht das mit Herz, oder?", seine Stimme flattert ganz leicht. Jemand der ihn nicht kennt, würde das nicht raushören, aber ich verstehe seine Sorge. "Ja, ich glaube schon."
"Die arbeitet für sich?"
"Ja."
"Gut."
"Ja."
Unwahrscheinlich, dass er dadurch seine Berufung wieder in vollen Maße ausführen kann, aber jetzt geht's ja erstmal drum, wieder zu leben, anstatt irgendwie zu überleben.
"Lass uns ein bisschen Ultraman weiterschauen.", sagt er und geht ins Schlafzimmer. Ich lege mich gefühlt zwei Meter entfernt von ihm, in Wirklichkeit sind es nur etwa 30 Zentimeter, aber die wirken.
Wir sind in der letzten Staffel Ultraman und es sind weitere Wendungen dazu gekommen, die mich ehrlich überrascht haben. Die letzte Serie, die mir so gut gefallen hat, war BeaStars (Absolute Empfehlung, super clever und ultra emotional).
"Du darfst dich auch zu mir legen."
Innerhalb dem Bruchteil einer Sekunde klebe ich auf seiner Brust.
16.35 Uhr
Luca kündigt sich mit lautem Gebell an. Mein Handy klingelt. "Hey, ihr seid da, oder?" Am anderen Ende der Leitung ist nur Rauschen. Ja, ich bin im Schlafzimmer klar. Ich springe schnell runter und Luca fällt mir in die Arme. "Hallo mein Schatz, schön dich zu sehen." Ich bekomme einen fetten Schmatzer zur Begrüßung und danach ist großes Trara bis er endlich von der Leine gelassen wird und die Treppe nach oben stürmen kann (wenn er es sich dann auch wieder zutraut selber runter zu gehen, ist gut. Der hat bestimmt 50 Kilo, ich trag den gerade nicht und Basti kann sich ja selbst nicht tragen. Wird schon gut gehen, er hat das ja letztes Mal mit den Mädels gelernt.).
Ich quatsche ganz kurz mit der Lady von Luca, die ein bisschen überrascht von der Freude ihres Freundes scheint. "Er hat mich direkt hierher geführt und angefangen zu bellen. Ich hab übrigens alle Klingeln gedrückt, aber ich glaub, die sind tot."
"Oh ja, das hab ich vergessen dir zu sagen, sorry! Die ganze Elektrik hier ist leider schrott. Wir warten seit wir eingezogen sind, dass da was passiert."
"Oh."
"Ja. Aber Luca weiß ja, wie er sich melden muss."
Wir lachen und sie verabschiedet sich. Als ich hochkomme, finde ich Luca im Wohnzimmer. Er seinerseits hat schon einen Knochen gefunden, den Gucci nicht für angemessen empfand und mampft fröhlich vor sich hin. "Wehe, du kotzt heut Nacht wieder!"
Ich muss ein bisschen lachen, weil sein Erbrochenes der Grund für diesen Blog ist. Und die nächtlichen Gedanken dazu.
Ich gehe wieder zu Basti rüber. "Hat er dir schon Hallo gesagt?"
"Ja, kurz, aber dann hat er eine bessere Beschäftigung gefunden."
"Hab ich gesehen."
Wir schauen die Folge zu Ende und machen uns fertig, um das Monsterchen abzuholen. Basti hat entschieden, mitzugehen und ich habe einfach mal mein Maul gehalten, anstatt zu fragen, ob er sicher ist und nicht doch besser lieber vielleicht daheim bleiben will.
"Die Jungs wenn sich verstehen... dann hätten wir eine tolle Freundschaft. Die können wenigstens mal kämpfen, weil der Luca auch was aushält."
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"Wie spät ist es?"
"16.21 Uhr. Warum?"
"Dann schaff ich es ja noch schnell zu Edeka, um uns was zu trinken zu holen."
'Nein.', denke ich. Evidenz. Aber ich halte mein Maul.
Luca und ich kuscheln ein bisschen und machen dann ein Foto, um es an die Prinzessin vom Kriegsgott zu schicken: "Bringen heute mal Luca mit. Könnten tolle Freunde werden."
16.28 Uhr
In zwei Minuten sollten wir unser Monster abholen. Luca und ich stehen vorm Ladenfenster und starren den Kaufhauscop (ja, der Edeka würde das brauchen) an, der uns heute Mittag schon nach ist, als wir einen Imbiss besorgt haben, nachdem wir von Gucci kamen. Ja, dann sehen wir vielleicht ein bisschen auffällig auf, aber es nervt, wenn du den Leuten vor dir beim fröhlichen Klauen zuschauen kannst, und der unfähige dicke Alte dir an den Fersen klebt, weil er keine Ahnung von seinem Job hat. Er starrt zurück und scheint sich jetzt offenbar bedroht zu fühlen, weil ich mit einem großen grauen Hund vor seinem Laden kampiere. Aber eigentlich warte ich nur darauf, dass mein Freund wieder aus dem Bermudadreieck Georg auftaucht.
Ich schreibe der Prinzessin, dass das Monsterchen noch kurz warten muss, weil Basti in einer Zeitschleife hängt und sie schreibt, dass es egal ist, weil sie eh zuhause am Arbeiten ist. Gleich darauf kommt ein Bild vom fertig angezogenen Monster, das schon im Türstock parat steht und auf uns wartet.
16.32 Uhr
Langsam werde ich echt sauer und schaue den dicken Kaufhauscop extra böse an. Er kann zwar nichts dafür, dass seine Kassiererkollegen ihre Arbeit ebenso wenig verstehen, wie er seine, aber das ist halt grad der einzige von dem Verein, der grad da ist. Mache ich eigentlich nicht, weil ich ja froh bin, wenn überhaupt noch jemand arbeitet, aber heute reicht's mir echt. Wir sind fast jeden Tag in diesem Kackladen und haben es wirklich nicht nötig, bei Edeka zu klauen. Echt jetzt.
16.33 Uhr
"12 Minuten!", rufe ich und schlage die Hände überm Kopf zusammen. Es kamen nur drei Leute aus dem Laden, also kann die Schlange nicht so lang gewesen sein. "Rate mal wie viele Leute an den Kassen waren."
"Zwei?"
"Vier. Auf zwei Kassen. Also theoretisch ja."
"Hab nur drei rausgehen sehen. Waren danach wahrscheinlich noch beim Bäcker oder?"
"Da gab's auch ne Schlange aus drei oder vier Leuten. Keine Ahnung."
16.38 Uhr
Basti ist auf der Zielgeraden zum Monster, Luca und ich zum See. Wir haben vor, die Hunde ganz beiläufig zusammenzuführen. Wie immer. Leider kommt uns auf dem Weg ein dritter Hund in die Quere und Luca beschließt, ohne meine Reaktion abzuwarten, auf Basti zu zuspringen und ihn von dem böse Monster zu befreien. Unser Monsterchen hingegen macht alles richtig und geht in die Verteidigung. Richtig gut für unsere Rücken. Was mal wieder schlau.
"Trennen wir uns. Ich bring Luca heim."
Mit Mühe und Not überzeuge ich ihn, dass es okay ist, wenn Basti zurückbleibt und wir gehen, während Basti das arme Monsterchen tröstet, das gar nicht so genau wusste, was ihm gerade geschehen ist.
Wir sind ein paar Meter von einander entfernt und die Hunde haben sich wieder beruhigt. "Warte!"
Er hat recht, das können wir so nicht stehen lassen. Das wäre schlecht für beide und für unsere Beziehung zu ihnen. Müssen wir jetzt durch. Selbst schuld, wenn wir uns so einen Tag dafür aussuchen. Lernen durch Schmerzen.
Mit Leckerlies und Ruhe deeskalieren die Situation schnell und wenn Luca voran gehen darf, gibt es keine Probleme. Wir sind so stolz auf unser Monster. Er hat wirklich Schwierigkeiten, seine Gefühle zu kontrollieren oder mit anderen ruhig umzugehen und er ist sehr, sehr kräftig für seine Größe. Er hat ein Herz aus Gold, aber die Fehleinschätzung seiner eigenen Wirksamkeit und Durchschlagskraft wie Lautstärke sorgen zwischendurch dafür, dass er sozial ein bisschen aneckt. Zumindest so far. Heute ist er der Musterschüler, der dem älteren zeigt, wie man alles richtig macht und das Gefühl scheint ihm richtig gut zu tun.
Wir gehen eine schöne große Runde durch den Wald und danach noch eine kleine durch den Park, weil wir echt schnell sind. Basti bringt das Monster nach oben und Luca und ich schlendern schon mal die Querstraße zur Fußgängerzone hoch. Wir verweilen kurz an einer Traditionsgastronomie. Schreinerei. Süß. Wär schön, wenn ich da auch was essen könnte. Vielleicht können wir ja mal hingehen und ich trinke ein Weizen. Oder ein alkoholfreies. Und Basti kann Eier mit grüner Soße essen. Das macht man hier so.
"Der arme Hund kann ja die Karte gar nicht lesen.", wirft mir ein Herr um die 50 an den Kopf mit einem Lächeln, als er mit seiner Begleitung ins Restaurant gehen will. Luca steht voll im Weg. "Ach, wissen Sie, der ist mir einfach zu schwer, um ihm hochzuheben, damit er besser sehen kann." Der Mann bleibt kurz stehen, lächelt ein bisschen verwirrt, weil er offenbar keine Antwort erwartet hätte und diese peinliche Pause entsteht, wie sie immer Einzug hält, wenn ich etwas auf irgendwelche Kommentare antworten. Tun Frauen das normalerweise nicht oder was ist daran so auffällig? Die passende Antwort darauf wäre übrigens gewesen: "Na, dann müssen Sie es ihm halt vorlesen!", aber das fällt ihm nicht ein, also kichert er ein bisschen verlegen vor sich hin, als ich einen schönen Abend und guten Appetit wünsche und mich nochmal entschuldige, dass der Hund im Weg gestanden ist.
Wir gehen weiter bis zur Bank vor der Pizzeria und Luca beginnt mit jedem zu shakern, der mit gefüllten Kartons rausläuft. Das geht glücklicherweise solange gut bis Basti wieder zu uns stößt und wir schlendern gemeinsam nach Hause.
"Trump hat gewonnen."
"Hm."
"Joa."
"War zu erwarten."
"Habe anders gehofft."
"Ich auch."
Ich muss zugeben, dass mich die Persönlichkeit an sich beeindruckt. Wie könnte er auch nicht? Du musst erstmal die Eier haben, die der hat, aber leider bin ich halt mit seinen Werten so gar nicht konform. Wenigstens hat Amerika Menschen, die sie vor 'ne Kamera stellen kann. Was haben wir in Deutschland? Krümel auf Krawatten, deren Knoten falsch am Nacken zusammengebunden sind, Schweiß oder Tränennasse Hemden (kann glaub keiner mehr so genau sagen) und auf der anderen Seite die peinliche Version von Dick Roman oder die Frau, die nur zufällig mit einer Frau zusammenlebt, ohne Homosexuell zu sein. Was ist das dann? Die Alibifrau, damit keiner auf die Idee kommen könnte, man wäre hetero? Macht alles Sinn. Aus diesen und weiteren Gründen haben wir nach einem kurzen Anflug von "Vielleicht können wir was bewirken" unsere politischen Ambitionen wieder beerdigt. Gut, dass uns da Bastis schwerer Schub dazwischen gekommen ist. Hat uns zumindest vor der Misere bewahrt.
"Bist du aufgeregt wegen morgen?"
"Es wäre töricht, wenn ich es nicht wäre."
"Ja, das ist wahr."
Mehr habe ich dazu nicht zu sagen.
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"Weißt du, was lustig ist?" Ich habe gerade den heutigen Frauenbarth-Instapost gemacht. Liebe für Luca. 333. Wir kennen uns einen Monat. "Ne?"
"Luca ist da und Frauenbarth hat 333 erreichte Konten auf Instagram."
"Ja, schöne Zahl."
"Und auch der Titel des ersten Blogbeitrags."
"So schließt sich der Kreis."
Wir spielen unsere neuen Chars mit Zeitwanderungsdungeons bis Level 70 und Basti erzählt mir derweil ein bisschen was, was in der Zeit, als er diese Runs aktiv gegangen ist, so passiert ist. Viel. Und mehr. Und ich weiß, ich kenne nur das Spitzchen, des Eisbergs.
"Machen wir noch einen?"
"Ja, aber jetzt normal."
Wir waren jetzt wirklich schnell, aber wir haben auch den Levelbonus durch das 20jähirge Jubiläum und den Kriegsmeutenbonus. Was wir nicht haben, ist ausreichend Gearscore. Also melden wir uns nochmal für einen Zeitwanderungsdungeon an und landen in einer Gruppe mit einem Troll. Wir verlassen sie nach 2 Minuten und haben für 30 Minuten Sperre. "Farmen?", fragt er und überlegt es sich gleich anders: "Ne, lass uns jetzt Gassi gehen, dann ist der Bub schon versorgt."
Wir gehen Gassi und Luca ist wenig motiviert, noch viel zu laufen. Die Waldrunde mit Aris war für ihn anstrengend. Er ist sehr pflichtbewusst und er hat schon akzeptiert, dass er Basti nicht verteidigen darf, da musste er natürlich ein Extraauge auf mich haben.
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"Ist soweit.", sage ich als er von der Toilette zurückkommt. "Was?"
"Die Ampel hat aufgegeben."
"Jetzt schon?"
"Ja, habe gerade kurz durch die Bekanntgebung von Habeck geguckt. Neuwahlen stehen im März an."
"Joa."
"Joa. Und wo gehen wir jetzt hin?"
"Gute Frage."
Natürlich bleiben wir erstmal. Mal ehrlich, wohin sollten wir gerade auch gehen? Theoretisch haben wir als nach außen hin heterosexuelles Pärchen ja keine Probleme, selbst wenn die AfD übernimmt. Erstmal. Aber wir haben auch keine Lust mehr, uns zu verstecken. Wir haben unser ganzes Leben dafür gekämpft, die sein zu dürfen, die wir sind und haben schon viel dafür eingesteckt und/oder in Kauf nehmen müssen. Wir haben das über 30 Jahre lang überlebt und wir werden uns jetzt, wo wir das erste Mal frei von allen anderen sozialen Bindungen entscheiden können, das auch wirklich zum Ausdruck zu bringen, werden wir nicht einfach den Kopf einziehen. Aber man muss auch realistisch bleiben und ein Ausweichplan schadet nicht. Die Frage ist dann nur, wohin. Bleibt ja im Grunde wenig. Jeden von Bastis Vorschlägen kann ich mir "braun.", "nimmt uns nicht." oder "wollen wir sicher nicht hin.", "braun." und "wird braun." abtun.
Gegen halb drei kuscheln wir uns aneinander und sagen, dass wir uns lieben. Wir haben Angst vor morgen. Angst davor, dass er sich danach gar nicht mehr bewegen kann.
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