Giftspritzen
- FRAUENBARTH
- 18. Nov. 2024
- 8 Min. Lesezeit
8.00 Uhr
Der Wecker klingelt. Mein Freund schaltet ihn aus, ich schlafe weiter.
8.20 Uhr
"Guten Morgen, Bebi!"
"Guten Morgen.", murmle ich in mein Kissen. "Wie geht's?"
"Beschissen. Konnte nicht schlafen."
"Aber Kopf?"
"Geht."
"Visuell?"
"Geht."
"Arzt?"
"Ne."
"Ok. Ich schreibe gleich mal der Osteopathin."
"Ja."
Wir stehen auf und gehen kurz Duschen. "Toll, jetzt werd' ich auch noch krank."
"Hab ich befürchtet, als du gestern sagtest, die Luft ist von der Heizung zu trocken und ich das seit zwei Tagen nicht mehr merke. Hab's dann wohl schon hinter mir."
Aktuell kann ich wirklich nicht genau sagen, ob ich mich zwischendurch schlecht fühle, weil ich einen Infekt habe oder einfach, weil die Situation das halt so bestimmt. Aber nach diesen Entwicklungen wird es wohl ein kleiner Virus gewesen sein.
Heute wollten wir eigentlich wieder mit dem Training starten, aber wir haben eh noch keine Info vom Fitnessstudio, ob da inzwischen alles so geklärt ist, wie es geklärt werden soll und es gibt da drin nur noch ausgesuchte Menschen, mit denen ich ein Wort wechseln werde. Der eine davon ist krank zuhause, der andere hat heut frei und die Dritte kenne ich zu wenig, um über ihr Leben Bescheid zu wissen, aber sie wirkt ganz sympathisch und kompetent. Die Chancen stünden also eh gering, dass da heute noch eine Klärung möglich ist, aber vielleicht erfahren wir ja endlich irgendwas Neues wegen unserer Küche. Es ist schließlich Montag und wir hatten darum gebeten, bis spätestens Freitag eine Rückmeldung zu erhalten. Bei dem Anruf waren wir dann leider gerade Gassi und als wir es gesehen haben, war es zu spät zum Zurückrufen.
Als wir zurückkommen, frühstücken die Hunde erstmal und ich mache uns ein paar belegte Brötchen. Lange her, dass wir so gefrühstückt haben. Fast wie normale Menschen. Wow. Ich schaffe sogar eine ganze Körnersemmel mit veganem Käse und Gurke.
Danach kümmern wir uns mal um die Berufe von meiner Magierin. Sie lernt Inschriftenkunde, weil zu der Todesritterin Ingenieurin viel besser passt und sie als ersten Beruf Juwe ist, was sich offenbar wunderbar ergänzen wird. Wir rennen noch schnell einen Dungeon, um die Schatzkammer aufzuwerten und danach legen wir uns nochmal hin, kuscheln mit den Hunden und gucken Dr. Stone. Ist 'ne gute Serie. Haben wir schon mal gesehen. Inzwischen kann ich aber auch den Handlungen von Serien und Filmen wieder einigermaßen folgen. Mag komisch klingen, aber wenn das auf einmal nicht mehr geht und du tausendmal das gleiche anschauen kannst und immer wieder überrascht bist oder die Figuren, die du seit drei Staffeln kennst, nicht mehr einordnen kannst, wird's irgendwann eher traurig als witzig. So ging's mir seit Mitte 2021, als eins meiner härtesten Traumata (ich denke sehr bewusst) öfter massiv angetriggert wurde bis ich dann im November 2021 völlig dissoziiert war. So schlimm wie noch nie zuvor in meinem Leben und das hätte ich bis zu dem Zeitpunkt nicht mehr für möglich gehalten. Das Gehirn ist eine spannende Angelegenheit, Psyche ist es auch. Sie haben vielleicht manchmal recht, uns zu schützen, aber wenn sie dabei ein Leben verhindern, ist das mit dem Schutz auch wieder eine zwiespältige Geschichte. Wie auch immer, so langsam komme ich ja auch in meinen Körper zurück und kann Finger und Zehen bewegen, die meisten Situationen willkürlich steuern und falle nur noch manchmal in Robotermodus. Dafür fühlt sich halt seither alles super intensiv und überlagernd an. Stell dir vor, man hätte dich für zwei Jahre in ein Vakuum gesteckt (wobei Zeit ab diesem Moment genauso irrelevant wird wie Raum) und dich plötzlich ohne Vorwarnung wieder in die Welt gespuckt. "Kann mich echt nicht erinnern, dass die jagen gegangen sind..."
Wir schlafen nochmal ein und stehen zur Gassizeit auf, holen auf dem Weg die Medis aus der Apotheke. Ich warte mit den Hunden draußen und die Welt zieht mit ihren Gesprächen an mir vorbei.
"Wir müssen wirklich aufhören über die ganze Weltpolitiksgeschichte zu diskutieren. Das wird ja langsam peinlich. Jeder ist offenbar gerade DER Experte. Es gibt keine anderen Themen mehr und ändern tun wir letztendlich eh nichts an der großen und ganzen Situation."
"Stimmt schon. Dann lassen wir das einfach, damit wir nicht auch so komische Verschwörungstheoretiker werden."
"Find ich eine gute Entscheidung. Lass uns einfach leben. Dafür haben wir lange genug gekämpft. Da will ich mich jetzt nicht wieder von meinem Hirn fangen lassen."
Und niemand kann sagen, wann's vorbei ist. Ist einfach. Was bringt dir die Angst vorm Krieg, solange er nicht hier ist? Hast du ihn dann nicht schon in dein Haus eingeladen? Und ich merke, dass mich diese ganzen Themen jeden Tag mehr abf*cken. Ist ja schon schwierig genug, so mit den Leuten auszukommen, was vielleicht auch ein bisschen daran liegt, dass wir beide schwierige Charaktere sind, aber man kann auch viel von uns haben, wenn man uns nicht ans Bein pisst. Leider auch manchmal ein bisschen drüber hinaus, aber wie mein Freund zu sagen pflegt: "Es ist töricht, Geduld mit Schwäche zu verwechseln."
Das Gute an der Sache ist, dass ich über die Jahre Geduld gelernt habe und meine Erinnerung mehr und mehr zurückkommt. Vergeben und vergessen sind zwei paar Stiefel. Vergeben kann ich aktiv, Vergessen nicht.
Nachdem wir wieder zuhause sind, stelle ich fest, dass ich einen verpassten Anruf von Edeka habe. "Edeka hat angerufen."
"Wird Frau F. gewesen sein. Ich habe ihr gerade nichts zu sagen."
"Okay, rufst du dann kurz noch wegen der Küche und so durch?"
"Klar."
...
"Keiner erreichbar."
"Gut, ich mobilisiere mal die RS. So kann es ja nicht weitergehen."
"Stimmt. Verarschen lassen brauchen wir uns auch nicht. Es war mehr als genug Zeit."
"Allerdings. Und wenn nicht bald mal was vorwärts geht, weiß ich nicht, wie wir wieder gesund werden sollen."
Wir laufen beide schon wieder am Limit. Ist schon blöd, wenn man ein krankes Paar ist und PingPong mit schlechten Tagen spielt. Ganz schlecht ist es dann, wenn die Küche, die zu erheblichen Geld für diesen kleinen Raum und die Wohnung an sich, mit angemietet wurde, weil ich das für meinen Beruf bräuchte und wir uns deswegen extra für die kostspieligere Lösung entschieden haben, nicht auftaucht. Der Sachbearbeiter vom Möbelhaus kann ohne Auftragsnummer auch nichts machen und wir haben nur die Info, wir sollten uns selbst drum kümmern, wann die Handwerker zum Vermessen kommen können. Würden wir ja, wenn wir denn wüssten, ob sie bestellt ist. Das ärgerliche ist ja, dass wir schon lange eine Küche da drin hätten, hätten wir sie einfach selbst gekauft und nicht auf die schriftliche Abmachung vertraut. Die hat uns bis dato nämlich nichts geholfen, aber wir waren bisher auch sehr nachsichtig. Ich war bis Mai sowieso komplett außer Gefecht und die Lösungen, die ich vom Bett aus vorgeschlagen habe, haben alle nicht zugesagt. Also unseren Vermietern. Ich hätte halt aber auch nicht in ein Fachgeschäft gehen können und dass man das inzwischen alles online machen kann, hab ich zu spät gecheckt. Weil ich halt Ü30 bin. Also kann man schon sagen, dass von unserer Seite Nachsicht angebracht ist, zumal wir ja auch schon fast ein Jahr hier gewohnt haben, bis wir herausgefunden haben, dass wir Miete an einen Menschen zahlen, dem die Wohnung gar nicht gehört und der seinerseits seit zwei Jahren keine Miete dort bezahlt hat. Glücklicherweise konnte mein Superman die Sache aufklären als wir aus dem Nichts heraus, bzw. mit einer nicht mal 18 stündigen Mitteilungen unseres bis dato "Vermieters" vor der Zwangsräumung standen. Das war am 27. März. Am 24. März ist waren meine Bandscheiben endgültig durch. Als die Nachricht mit der Zwangsvollstreckung kam, kam ich gerade vom Arzt zurück und keine wusste so genau, was mir fehlt. Nur, dass ich hochgradige Schmerzen hatte und nicht mehr laufen konnte. Wenn man das so aufschreibt, klingt das erfunden, aber es gibt Leute, die dabei waren und uns sogar selbstlos geholfen hätten. Z.B. eine der Studis ausm Gym oder die Mama unserer Hundemädels, die ursprünglich auch aus dem Allgäu kommt und gerade innerhalb des Taunus am Umziehen war. Hunde schaffen Verbindungen und so hatten wir am selben Tag noch das Angebot zumindest übergangsweise mit in ein Haus in der Nähe von Frankfurt zu ziehen. Und sie denkt, sie hätte ihr Rudelbuch nicht verdient, weil sie nie was für uns getan hätte... Vielleicht ist den Guten oft zu wenig klar, dass sie gut sind...
Das war glücklicherweise dann aber alles nicht nötig, weil wir ja belegen konnten, dass wir unseren Verpflichtungen nachgekommen sind, also haben wir einfach einen gültigen Mietvertrag mit den Eigentümern gemacht. Doppelter Preis, dafür wird die Elektrik gemacht, die Küche, die ja schon lange in Lieferung war (laut "Vermieter", aber da war dann Ikea Schuld << Ikea wusste nur leider von nichts und auch hier gab es keine Auftragsnummer) würde dann halt nach unseren Vorstellungen reingebaut werden, je nachdem, was wir bereit sind, auszugeben. Ehrlich gesagt wäre uns die Rate für die Küche von Anfang an günstiger gekommen, als sich so zu entscheiden, aber heutzutage lebt man nicht gern auf Pump, vor allem nicht, wenn man krank ist.
Deswegen schildere ich jetzt mal unserer Versicherungsdame die Sachlage, damit sie mir sagen kann, ob das ein RS-Fall ist oder ob ich mich besser an den Mieterschutzbund wende. Ich komme aus einer Versicherungsfamilie und kenne die Wege, aber es ist besser, sich abzusichern. Ich hatte die letzten Jahre so viel Probleme mit irgendwelchen Vorgängen, die schief gelaufen sind, dass wir inzwischen dazu übergegangen sind, alles mit zu notieren und zu dokumentieren so gut es geht. Und manchmal schadet es ja auch nicht, sich eine zweite Meinung einzuholen, gerade wenn man eh schon genervt von der Situation ist. Ich will ja eine Lösung und nicht alles noch schlimmer machen. Klar, könnten wir umziehen, wenn wir es könnten. Aber wie denn? Aktuell.
18.10 Uhr
Ich zerkleinere gerade die Pappe in der dunklen Müllkammer, da höre ich sie schon. Die Montagspredigerin der Louisenstraße. Sie ist immer pünktlich, hat ein Gefolge an am Leben hängenden mit Pappschildern dabei und informiert alle, die es nicht wissen wollen über das, was auf der Welt politisch gerade so passiert. Und auch nicht politisch. Der Anlass für ihre Missionszüge war nämlich offenbar Corona. "Wow, Alte, du nervst echt.", sage ich so vor mich hin, weil sie mich nervt. Sie ist laut mit ihrem Megafon, die freie Meinungsäußerung, die sie ja offenbar nicht hat (sie macht das seit wir hier wohnen öffentlich und unter Polizeischutz, also wenn hier einer seine Meinung frei äußert, dann wohl sie, oder?) Das tue ich im Grunde auch gerade. Also man hat schon Mittel und Wege und es ist ja jetzt auch keine Neuigkeit, dass man sich in Gefahr begibt, wenn man das Falsche zum Falschen sagt. Freie Meinungsäußerung hin oder her. Aber man muss ja nicht alles Dramatisieren und künstlich hochpushen. Ich seh' mal nach der Post und finde einen Brief vom Finanzamt. Inzwischen komme ich mit den drei verschiedenen Stellen hier einigermaßen gut aus und kann den Brief ohne Herzrasen öffnen, weil ich nicht mehr davon ausgehen muss, dass ich einfach wieder eine Festsetzung über tausend Euro habe, die irgendwie auch gar nicht so gerechtfertigt war oder mein Konto wegen 17€, die sie nicht finden konnten wieder für zwei Wochen eingefroren ist. Sollte sowas passieren, bin ich mittelmäßig vorbereitet, weil ich mir die wichtigsten Nummern der Sachbearbeiter, die mir weiterhelfen, eingespeichert habe. So wie das bei Edeka jetzt halt auch ist. Die kluge Frau baut vor oder so. Eigentlich habe ich einfach keine Lust mehr, mir alles gefallen zu lassen und auch ich mache jetzt meinen Mund auf. Das mache ich sonst nie, aber ich stehe eh schon halb im Tor, also höre ich kurz zwei Minuten zu, was der Schreihals zu sagen hat. Vielleicht sind wir ja gar nicht so unterschiedlich die...
Ich mache den Bescheid auf und bin zufrieden damit.
"Giftspritze!"
Okay und damit bin ich raus. Demonstrationsfreiheit hin oder her, aber ich muss mir ja auch nicht alles anhören. Oder doch, weil sie laut genug ist, dass ich sie in meiner Wohnung immer noch hören kann. Ich widme mich einfach weiter dem Haushalt.
Danach machen wir uns einen ruhigen Abend. Basti hat gestern vorgeschlagen, einen Gastbeitrag auf Frauenbarth zu schreiben, weil auch er ein Thema hat, das ihn sehr beschäftigt hat und darüber freue ich mich riesig. Es ist ein neuer Weg, mit Gefühlen umzugehen und unsere Welten nähern sich dadurch noch mehr an. Unser gegenseitiges Verständnis ist über die letzten Jahre stetig gewachsen, aber erst seit etwa eineinhalb Jahren blüht es richtig auf. Seit wir hier in Hessen sind. Nur wir zwei. Ohne störende Einflüsse von außen oder gesellschaftlichen Normen, die wir einhalten müssten, was wir ohnehin nicht gut können. Aber wir sehen uns von dem Druck befreit, es versuchen zu müssen und das ist ein unglaubliches Gefühl. Freiheit. Das wollen wir doch alle. Dann sollten wir aufhören, uns selbst einzusperren.
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