Herrschen und Teilen
- FRAUENBARTH
- 11. Nov. 2024
- 8 Min. Lesezeit
Kennst du die Geschichte vom heiligen Sankt Martin?
Der gute Mann teilt seinen Umhang mit dem Notleidenden. Wir haben die Geschichte als Kinder noch gehört, erzählst du sie deinen?
8.00 Uhr
Die Wecker klingeln. Ich drücke auf Schlummern, Basti drückt auf Schlummern. Wir rücken enger zusammen und der Hund macht keine Anstalten, irgendwann aufstehen zu wollen. Gucci halt.
8.05 Uhr Die Wecker klingeln. Wir drücken beide auf Schlummern.
8.10 Uhr
...
8.55 Uhr
"Okay, jetzt wird's wirklich Zeit, dass Madame mal rauskommt.", murmle ich. "Willst du mit?"
"Ich kann mich noch nicht bewegen."
"Das habe ich mir gedacht."
Mit ein Überredungskunst und vor allem ein paar leckeren Häppchen getrockneter Lunge überzeuge ich unsere Diva, dass es schon Sinn macht, morgens kurz Gassi zu gehen, auch wenn das Wetter schlecht ist. Sie ist ein gut Wetterhund und als ihr der erste Regentropfen auf die Nasenspitze ploppt, kurz nachdem sie durch die Glastür nach draußen geflutscht ist, will sie eigentlich auch schon wieder zurück. "Nix da! Ich hab mindestens genauso wenig Lust wie du, aber hilft ja alles nichts."
Auf Höhe vom Steigenberger finden wir dann doch langsam unsere Motivation und unsere Parkrunde wird größer als geplant. Wir sind erst gegen zehn wieder zuhause, Gucci frühstückt und Basti und ich hüpfen unter die Dusche. Es läuft Musik und die Stimmung ist... befreit. Es ist das erste mal seit Monaten, dass keiner von uns unter solch starken Schmerzen leidet, dass er dauerhaft nur schreien möchte und das ist schon ziemlich toll. Außerdem konnten wir viel unserer Altlasten klären. Vor uns und gemeinsame. Waren irgendwie verstrickt miteinander, so ist das halt nach fünf Jahren, wenn man sich an einem Punkt kennenlernt, an dem beide erstmal neu lernen müssen, sich im Leben zurecht zu finden.
10.27 Uhr
Wir klettern gerade aus der Dusche, da klingelt mein Handy. Die Hausarztpraxis. Schnell ein paar Dinge abklären, alles weitere besprechen wir dann am Termin am Mittwoch bezüglich Reha bei mir und weiteren Akutmaßnahmen bei Basti.
"Wir müssen heute mal rausfinden, was mit der Küche ist.", stellt Basti fest. "Und wir müssen uns an die Vermieter wenden wegen der Klingel und der Elektrik und dem Schloss. Bevor wir hier drin doch noch irgendwann verbrennen."
"Ja, unbedingt. Zeit genug war ja jetzt und es muss wirklich was passieren. Das kann ja so nicht mehr weitergehen."
Ich frage mich nebenbei, ob sich Edeka heute wohl melden wird, aber daran glaube ich eher nicht. Nach dem Drama am Freitag wäre das zwar schon notwendig gewesen, sich der Sache anzunehmen, aber letztendlich sind ja alle Stellen überlastet und was soll der arme Mann in der Beschwerdestelle auch groß tun, wenn die Mitarbeiter der freien Kaufmänner durchdrehen? Scheiß Situation halt. Für Kundschaft und Geschäft. Dass es immer Idioten geben muss, die anderen absichtlich was kaputt machen müssen. Schade.
Ich trinke einen Kakao und Basti einen Hafershake und dann verziehen wir uns erstmal in unsere andere Realität. Gegen halb zwei bin ich der Meinung, dass Gucci langsam mal wieder Pipi gehen könnte und ziehe meine Schuhe an. Bevor ich meine Jacke in die Hand nehmen kann, steht sie schon verschlafen, aber wedelnd vor mir. "Haben wir ein gutes Timing, Mausi, oder?" Einen kleinen Freudentanz und ein Stückchen Lunge später sind wir auch schon unten und stellen fest, dass das Wetter immer noch nicht so toll ist, aber anscheinend tut das ihrer Laune gerade doch keinen Abbruch. Sie führt mich an die Brunnen und wir müssen eine Runde drum rumlaufen. Das machen unsere Hunde gerne mal im Kurpark. Brunnenerkundungen.
Wir sind nochmal gut über eine Stunde unterwegs und als wir nach Hause kommen, schläft der Hund direkt weiter und ich übe besser durch die Dungeons zu kommen und meine Todesritterin nicht dauernd sterben zu lassen. Basti heilt aktuell, deswegen klappt das grad ganz gut, auch wenn ich noch nicht so genau weiß, was ich da mache. Ich kann das wenigstens zugeben im Gegensatz zu vielen anderen semierfolgreichen WoW-Spielern, deren größter Verdienst im Leben wohl ihr großes Maul ist. Aber auch nur hinter einem anonymen Char, während ich schwören könnte, dass sie bei Mami zuhause im Keller sitzen und sich von der immer noch den Popo abwischen lassen. Ist für mich die einzige Erklärung für ein solch aggressives Verhalten in einem SPIEL in dem es darum geht, Aufgaben zu lösen und das gemeinsam. Da merkt man halt dann auch teilweise, dass die Sozialkompetenz ganz rapide runter ist. Als würde man einen Blick in Facebook werfen, was ich gerade zwar wieder öfter tue, weil es einfach noch viele Nutzen, aber ich sehe fast jeden LogIn irgendwas verstörendes, was man wohl besser für sich behalten sollte. Warum fällt es den Menschen gerade offenbar so schwer, was progressives und schönes zu machen? Klar, überall ist Negativität, aber gerade deswegen wären wir als Menschen dazu angehalten, das beste aus der Situation auf der Welt zu machen. Keiner weiß, wie lange das Leben, das wir gewohnt sind, noch führen können, also wär's doch netter, diese Zeit noch angenehm zu verbringen, oder? Müssen wir schon vorher damit anfangen?
"Weißt was? Wir gehen uns jetzt erstmal was zu essen holen und lassen uns davon nicht nerven. Gucci kann eh mal wieder raus.", schlägt Basti vor und wir setzen den Plan in die Tat um. Zuvor schreiben wir noch schnell dem Vermieter und rufen die Hausarztpraxis nochmal zurück, aber erreichen niemanden mehr.
Gucci freut sich, dass Basti mitgeht und es ist auch gar nicht schlimm, dass das Wetter schlecht ist. Weil wir eh eine große Runde gehen und danach noch schnell ein paar Sachen besorgen wollten, biegen wir Richtung Fußgängerzone ab und Gucci beharrt darauf, einen Abstecher in den Hundeladen zu machen. Sie bleibt solange vor der Ladentür sitzen bis wir mit ihr reingehen und sie sich was ausgesucht hat. Mit Hilfe des netten Verkäufers findet sie einen Insektenknochen, den sie zunächst super toll findet, zuhause dann aber feststellt, dass die Lunge, die sie mitgebracht hat, doch viel besser ist. Gucci halt. Hätten wir ihr lieber ein paar Leckereien vom Lautenschläger mitgenommen, da weiß ich, dass sie's frisst.
"Du weißt, dass dein Essen mehr kostet, als meins, oder?", fragt Basti Gucci lächelnd, aber der ist das herzlich egal. "Tja, so ist das halt.", sage ich und denke an die Mitarbeiter von Netto, die sich öfter mal furchtbar drüber aufgeregt haben, dass die Katze meines Opas besser frisst als sie. Der arrogante Dreher. Dumm nur, wenn die Enkelin vom arroganten Dreher im Laden putzt, aber keiner sie zuordnen kann. Ich denke vielen Leuten aus meiner Heimat ist nicht bewusst, dass ich mir sehr bewusst darüber bin, was in meinem Umfeld geschehen ist oder was über meine Familie und ich im Umlauf ist. War ich anfangs überrascht? Ja. Angewidert? Definitiv. Erschrocken? Ein paar mal. Verständnislos? Sicherlich. Verwirrt? Na klar! Wenn die auf einmal so viel Hass begegnet und du gar nicht genau weißt, was genau du eigentlich verbrochen hast oder warum du diejenige bist, die ja eh nie was leisten musste, weil sie aus der reichen Familie kommt. Letztendlich hätten sie ja fast recht gehabt und ich hätte das auch alles gar nicht mitbekommen, wenn es eben so gewesen wäre. Dann hätte ich mir nämlich mein Tierheilpraktikerstudium nicht selbst bei einem Putzjob bei Netto zu einem Mindestlohn von damals 7,56€ finanzieren müssen, um nebenbei hören zu dürfen, wie gut es uns Arschlöchern doch geht. Das sind die netten Kleinigkeiten. Je älter man wird, desto mehr haben die Leute zu erzählen und wenn ich alles wirklich erlebt hätte, was man mir andichtet, wäre ich inzwischen wohl schon hundert. Aber auf der anderen Seite kommt's mir dann doch so vor, als würde niemand glauben, was mir in Wirklichkeit passiert ist oder zumindest im Glauben zu sein, als wäre ich ordentlich selbst Schuld dran, was zu einem gewissen Teil auch stimmen mag, aber halt auch nicht zu 100%.
Es ist nicht so, dass mich das dauerhaft beschäftigt, ich versuche lediglich, die Welt zu verstehen und das, was uns um rum passiert.
Hat die Katzen-Netto-Geschichte für unser Leben noch eine Bedeutung? Ja, irgendwie schon. Weil: Klar, fällt uns immer alles leicht und in den Schoß. Klar haben wir immer gute Laune und uns scheint die Sonne aus dem Arsch. Natürlich sind wir nur arrogant und auf einmal völlig komisch, wenn wir nicht mehr rausgehen. Klar sind wir zu jeder Zeit erreichbar. Klar dürfen wir nicht nein sagen. Aber logo können wir da mal kurz mit der Miete aushelfen und es ist auch kein Problem, wenn du die erst zwei Wochen später zurückzahlen kannst. Ärgerlich ist es, wenn du dann zehn Euro weniger überweist, aber auch alles okay. Es führt sich einfach fort.
Die Alternative für uns wäre natürlich, jetzt auch mit dem Finger auf alle zu zeigen, die z.B. eine Küche haben. Oder Internet in ihrer Wohnung. Oder mit 30 den Körper eines 30Jährigen. Aber was soll uns das bringen? Und was wir anderen nicht antun, erwarten wir auch für uns. So einfach ist das.
Die wirkliche Alternative und das haben wir die letzten Wochen gemerkt, ist der soziale Rückzug. So schlecht es uns körperlich ging, so gut geht es uns, seit wir viel seltener Menschen ausgesetzt sind. Unsere extravertierten Gehirne lechzen zwar danach, aber die Psyche kann das gerade nicht mehr ertragen. Wir sind inzwischen schon wieder versöhnlicher gestimmt, als wir es die letzten Wochen waren und es gibt auch die ein oder andere Person, mit der wir demnächst vielleicht mal wieder Kaffee trinken gehen, aber ansonsten sind wir happy mit unseren Hunden und deren Leuten. Und unseren süßen Nachbarn. Das reicht vollkommen.
Ich bin sehr froh, dass wir endlich an diesen Punkt gekommen sind. Fühlt sich entspannter an und ich habe auch wirklich keine Lust mehr, mir ständig dieselben Heulereien anzuhören, die eh ich in zwanzig Jahren immer noch hören würde. Dafür ist mir mein Leben zu schade.
Krass, wie sich innerhalb nicht mal einer Woche alles ändern. Letzten Montag musste ich noch zu sehen, wie sich die Liebe meines Lebens vor Schmerzen krümmt und ich nichts tun kann. Und heute läuft er aufrecht neben mir her. Seine Augen bekommen ihre schöne Farbe zurück. Langsam, aber sie kommt. Und er kann atmen. Ich bin glücklich.
Zuhause angekommen sehen wir, dass wir den Anruf vom Vermieter verpasst haben, um den wir gebeten haben. Basti will gerade zurückrufen, da klingelt er nochmal durch. Weil der Empfang in unserer Wohnung super schlecht ist, klären sie, was zu klären ist, im Hinterhof. Ist ja auch der beste Ort für sowas. Ich bin gespannt und schaue ihn erwartungsvoll an, als er wieder zur Tür rein kommt. "Ja, er sagt, er kümmert sich drum und dass es ihm ganz leid tut. Das glaube ich ihm auch. Was soll er denn machen, wenn er keine Handwerker herbekommt. Wir kennen das Problem ja selbst."
18.13 Uhr
"Krass, was alles an Spam reinkommt und wie die AI sich schon dem Sprachflow anpasst. Wirklich gut.", stelle ich fest. "Entwickelt sich alles weiter."
"Vielleicht. Von den Grünen kriege ich immer noch Einladungen, obwohl ich mich ja eigentlich schon wieder aus dem System hab entfernen lassen. Dafür kommt die Verifikationsmail von Raider.io kommt auch auf der anderen Mailadresse nicht an. Wird schwer so zu recruiten."
Wir sind ja gerade dabei, unsere Gilde in WoW aufzubauen. Einfach ein paar nette Leute, die Spaß am RPG haben und am was dazu lernen. Soll ja schon auch Ziel sein, ein bisschen besser zu werden, aber halt jeder in seinem Tempo. Alles ein bisschen progressiver, wenn der Rest schon so chaotisch ist.
Die Verifikationsmail kommt dann nach dem zehnten Versuch doch an und ich klick mich mal ein bisschen durch, bevor ich auch wieder in die Anderswelt umlogge und inzwischen schon deutlich mehr Spaß habe, weil ich langsam wenigstens ein bisschen besser werde.
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