Kein Abitur
- FRAUENBARTH
- 3. Dez. 2024
- 8 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 21. Apr.
08.00 Uhr
Der Wecker klingelt. Ich drücke auf Schlummern und drehe mich nochmal zu meinem Freund.
8.05 Uhr
Der Wecker klingelt. Ich stehe auf, ziehe mich an, trinke eine Tasse Kakao und richte den Mädels schon mal ihre Schlafplätze im Wohnzimmer ein. Die Granddame bekommt meine Gassijacke und meinen Morgenmantel, weil sie nicht mehr auf dem Wäscheberg thronen kann wie früher. Ist ja keiner mehr da. Zum Glück für uns, zum Leidwesen des Hundes, aber dafür gibt's ja Lösungen.
8.50 Uhr
"Warum steht sie vor dem Bett?"
"Sie denkt ich schlafe noch und wir üben, mir nicht im Schlaf ins Gesicht zu hauen. Deswegen reagiere ich jetzt erst das zweite Mal, wenn sie reinkommt.", flüstert er mir zu. Sie spitzt die Ohren aber hält die Pfötchen so still es geht. "Guten Morgen Süße! Jetzt bin ich auch wach! Komm her!"
Sie wirft sich in seine Arme und es wird erstmal gekuschelt. Danach frühstücken die Mädels und wir gehen duschen und machen uns Gassifertig. Wir haben neue Leinen mit super Sicherheitskarabinern, weil wir Schrödingers Hund ohne Kiste nicht nochmal ertragen können. Außerdem sind das mal richtige Schleppleinen. 30 Meter, da können sie auch mal laufen, die Hundis.
Wir haben viel Spaß im Park und die Granddame findet sogar ihren Turbo und ist auf einmal wieder ein Junghund. Einfach wunderbar. Wir sind ganz schön ausgepowert, als wir nach Hause kommen und schauen Cyberpunkt fertig. Natürlich heule ich am Ende wie ein Schlosshund und finde, sie sollte es durchziehen. Basti guckt mich ein bisschen komisch an und da fällt mir ein, dass mir das Ende ja eigentlich auch gar nicht neu ist, sondern dass wir das schon zusammen gesehen haben. Da ist er, einer dieser peinlichen Momente.
Wie letzten Samstag. Da hab ich ihm morgens den Status meiner Mum vorgelesen. Eine Fangfrage. Er hat richtig geantwortet und ich habe mich entschuldigt, dass ich es falsch vorgelesen habe. Dann war er verwirrt und ich auch. "Wie hätte ich denn richtig antworten sollen, wenn du die Frage nicht richtig gestellt hättest?"
"Weil du schlau bist?"
"Hm. Ja, aber wohl eher, weil du die Frage richtig gelesen hast, dich dann entschuldigt hast und die Frage danach nochmal falsch gesagt. Zwei mal hintereinander bis du dir selbst geglaubt hast, dass du es falsch gesagt hättest und mich hast du auch schon fast wieder dran bekommen damit."
"Voll dumm. Warum mach ich das?"
"Brauchen wir nicht wirklich drüber reden, oder? Schon klar, wenn dir Jahre lang alles anders ausgelegt wird und immer alles deine Schuld ist, dass das Spuren hinterlässt."
"Hm ja..." Ich hab mich zu ihm in den Arm gekuschelt und mich gefreut, dass er mit meiner Verrücktheit klarkommt und mich, wenn nötig, dran erinnert, dass nicht mehr vor sechs Jahren ist.
Die Hunde schlafen neben uns auf der Rudelmatratze und wir überlegen, ob wir auch nochmal ein Nickerchen machen, aber irgendwann ist es auch mal an der Zeit aufzustehen. Zum zweiten Mal halt. Mal kurz in World of Warcraft schauen, was noch so zu tun ist, ist schließlich Dienstag und damit Wochenabschluss.
Wir quatschen ein bissl, während unsere Chars die Handwerksaufträge erledigen und wir kommen überein, dass wir das Abitur nicht mehr nachmachen werden. "Was ist es denn noch wert? Dass man sich cool fühlen kann, weil man einen depperten Studiengang machen kann, in dem man weniger lernt, als in einer Ausbildung?"
Sicherlich ist es nützlich, wenn man als junger Mensch versiert genug ist oder sein kann, um sich auf seine Bildung zu konzentrieren und ein gutes Abitur zu schreiben, aber das ist halt trotzdem kein Garant.
Das Gespräch bringt eine Erinnerung an meine Therapiezeit zurück. An den Folgen der Gründe für diese Therapie habe ich ja offenbar bis heute noch zu knabbern.
"Kind, mach Abitur.", war der Leitspruch meiner platonischen Therapieliebe. Wir haben uns an meinem zweiten Tag in Bad Neustadt kennengelernt. Ich fand es ganz schrecklich. Einfach schrecklich. Alles. Und vor allem, auf Therapie zu sein. Alk und Medis. Getrunken hab ich zwar zuvor gut, aber darum ging's weniger. Ich musste einfach schnellst möglich weg und der Alkohol war hier tatsächlich mal eine Lösung, bzw. die Angebote, um ihm abzuschwören. Hilft auch bei Stalkern und nicht loslassen wollenden (Ex)-Ehemännern, wenn man lang genug wegbleibt (in der Zeit wird ihnen langweilig und sie suchen sich ein neues Opfer, aber hüte dich grade vor diesem, es wird nämlich versuchen, dich zurück ins Nest zu ziehen, aber dazu ein andermal).
Als ich losging war das Wetter noch okay. Ich hatte ja keine Ahnung wo ich war, also bin ich einfach mal gelaufen. Habe dann die Altstadt gefunden und ein tolles Kaffee, ungefähr tausend Touri- und Bastelshops aber keinen Einzelhandel und ich hatte echt furchtbar Hunger und musste mir einen Essensvorrat für mein Zimmer anlegen (was nicht gestattet war, aber ich hatte damals noch weniger Gewicht als jetzt) und brauchte unbedingt einen Briefkasten.
Als ich so planlos über den Stadtplatz lief, viel mir ein nett wirkender dicker Mann auf, der so auf zwei hundert Meter recht sympathisch wirkte und ich beschloss, mutig zu sein und zu fragen, ob er wisse, wo ich die Post oder einen Briefkasten finden könne. Das war ein Riesenschritt für mich, denn bis zum Tag zuvor bin ich nicht mehr ohne Begleitschutz (der meist aus dem alten Dealer meines Exfreundes bestand, der froh war, dass es dem Hund gut geht und dem ich erklären konnte, dass er aktuell wirklich besser aufgehoben ist - gibt dazu auch eine wilde Geschichte, aber da war ich selbst nicht dabei. Ich kenne nur die Tierheimseite und die ausgeflippter Germanist steht Polizei und Mitarbeitern mit Katanern ) rausgegangen.
07.02.2019
"Hallo, können Sie mir helfen? Wo finde ich einen Briefkasten?"
"Oh, ich weiß nicht. Vielleicht an einer Haustür?"
"Hä? Nein, ich will Postkarten versenden."
"Achso! Du suchst die Post." "Nein, eigentlich nur einen Briefkasten, weil die Marken ja schon draufkleben."
"Verstehe... Okay, aber ich kann dir leider nicht helfen. Ich bin auch gerade erst angekommen."
"Achso. Entschuldigen Sie die Störung."
"Schau mal da drüben, da ist was Gelbes. Brauchst du sonst noch was?"
"Essen."
"Ah ja! Einzelhandel ist da vorn um die Ecke." "Danke!"
Ich gehe und denke nicht weiter drüber nach, woher er denn gekommen ist und warum er da ist, wo er ist. Ist ja auch nicht mein Bier. Wird halt im Urlaub sein. Ich finde den POSTKASTEN und werfe meine Karten rein. Danach suche ich den Lebensmittelladen, aber finde nur Hunkemöller und Deichmann. Es beginnt zu regnen, ich bin immer noch hungrig, obwohl ich im Café beim Postkarten schreiben bereits ein Stück Kuchen und eine Tasse Sojakakao hatte (war begeistert, dass es das in 'nem kleinen Ort wie NESSI gibt).
Ich bin schon den ganzen Tag unterwegs und ich weiß auch nicht genau, wie ich wieder zurückkommen soll. Abendessen gibt es um sechs, das hab ich eh schon verpasst. Es ist inzwischen dunkel und mein Handy hat kein Netz. Kann ich mir ja auch gerade nicht leisten.
Das Mädchen im Deichmann hat Mitleid mit mir oder will mich aus dem Laden haben. "Suchst du was?"
"Lebensmitteleinzelhandel."
"Da vorn um die Ecke."
"Das hat der Mann vorher schon gesagt.", sage ich und beginne zu weinen. Na ja, die sind das gewohnt, ist ein Kurort. "Oh, ja, da hatte er auch recht. Schau, du gehst einfach da rüber und da ist ein kleiner Markt. Da findest du erstmal alles, was du brauchst."
"Oh danke."
Ich finde den Laden und kaufe Schokolade und Kekse und zehn Semmeln und Falafel. An der Kasse steht auf einmal wieder der dicke Mann vor mir und mir fällt auf, dass ich immer noch nicht weiß, wie ich zurück zur Klinik komme. Er nimmt mich war und lächelt mir kurz zu. Ich fühle mich ganz unwohl, weil ehrlich, was will der von mir? Ich hab nur nach dem blöden Postkasten gefragt und war zu blöd, das Wort richtig zu verwenden. Und jetzt seh ich halt aus wie ein begossener geschlagener Pudel in meinem schwarzen Mantel, den mir Sarah aus der Entgiftung mitgegeben hat. Im Grunde ist meine ganze Garderobe von ihr. Einer Friseurin, die schon mit meiner Oma gearbeitet hat. Mit einer, die bei meiner Oma gelernt hat, lag ich übrigens ein paar Tage im BKH in Kempten. Man lernt viele Menschen kennen und erfährt noch mehr über seine Familie, wenn man mal in der Psychiatrie gehockt ist. Die zwei Wochen waren ein bisschen was wie Zeitwanderung (in fremden Köpfen, nachts um drei...).
"Weißt du nicht, wie du heimkommst?", fragt er, nachdem ich bezahlt habe. "Was?"
"Ich hab grade ein Tai bestellt. Bei dem Wetter laufen wir nicht mehr! Ich nehm dich mit?"
"Was? NEIN!"
"Keine Angst, Hase, ich hab dich heut' schon beim Frühstück gesehen und ich verspreche dir, ich bin so schwul, da könntest du dich auf den Kopf stellen."
Ich zögere. "Ehrlich, guck mich an! Als würde ich das vorspielen. Komm, das Taxi ist gleich da."
Wir rennen aus dem Laden und stellen uns gegenüber beim Vordach unter. "Ich bin übrigens Yannick."
"Ach ja, lustig! So hätte ich geheißen, wenn ich ein Junge geworden wäre. Ich bin Jana."
Ein paar Tage darauf.
"Du glaubst nicht, was gerade passiert ist!", rufe ich als ich unser Zimmer stürme. Sie schaut mich verwirrt an. "Was? Hast du mit dem Musiker geredet?"
"Ne, ich hab eine Postkarte bekommen."
"Von wem?"
"Ich hab ein Valentinstagsdate."
"Mit wem?"
"Mit Yannick."
"Dem Schwulen? Ist der nicht viel zu alt?"
"Lies einfach die Karte."
"Oh wie süß!"
Auch wenn ich es erstmal überhaupt gar nicht so lustig fand, eine Postkarte zu finden (bei dem Jahr das hinter mir lag irgendwie nachvollziehbar), war ich umso glücklicher, nachdem ich sie gelesen und gecheckt hatte, von dem sie war. Ich hatte meinen platonischen Valentinstagsschatz gefunden und wir haben beide beschlossen, dass das gerade genau das ist, was wir brauchen. Eine nette Verbindung, in der Körperlichkeit absolut keine Rolle spielt. Habe zuvor selten solche Gespräche führen können. Er überzeugte mit Intellekt, Witz und dem nötigen Zynismus für die Situation. Viele meiner Fortschritte habe ich ihm zu verdanken und er wird uns auf Frauenbarth mit Sicherheit noch das ein oder andere mal begegnen. Einfach, weil's ein toller Mann ist. Und natürlich auch, weil von ihm der Spruch kommt: "Dein Leben erinnert mich oft an eine deutsche Tragikomödie. Nur ist es trauriger und verzwickter." Willkommen auf Frauenbarth.de.
Ist übrigens nicht so, als wär' ich auf Therapie auf einmal asexuell geworden, den Gedanken hatte ich das erste mal 2013. War ne schwierige Phase gefolgt von der "vielleicht bin ich Trans"-Phase bis hin zu 2018 und "gib doch einfach zu, dass du lesbisch bist" von meinem heulenden damals Noch-Mann im Katzenkäfig eingeschlossen bis ihn meine Arbeitskollegin aus dem Tierheim geworfen hat. Also halten wir fest, ich war gerade dabei, wieder rauszufinden, wer ich bin und Yannick hat mir mit seiner Ruhe und Anlehnung und männlichen und deutlich reiferen Ansicht sehr dabei geholfen. Manchmal wissen die Menschen nicht, wie viel sie einem bedeuten...
Er hatte viele gute Ratschläge und ich hab mir auch etliche davon zu Herzen genommen. "Kind, mach Abitur.", stand bisher noch auf meiner Liste.
"Sollten wir wirklich nicht nachmachen. Das kostet uns einen Haufen Geld und 'n Haufen Zeit und brauchen tun wir es faktisch gesehen auch nicht. Wäre nur eine Egosache und ehrlich..."
"Ja, brauchen wir nicht weiterreden, ich hab die letzten Jahre genug mit Studenten", er formt mit den Fingern Gänsefüßchen: "gearbeitet. Wenn das alles durchs Abi kommt, will ich's eh nicht, echt."
"Hat mein Physiklehrer damals schon gesagt. Zu einfach. Fand ich irgendwie erstmal gemein, den Kindern gegenüber, aber er hatte recht. So terugblikkend. G8 war einfach eine dumme Idee."
"Deswegen kein Abitur."
"Als Statement?"
"Ja."
Wir gehen nochmal mit den Mädels Gassi, sie essen ihre Abendleckerlies und gehen um acht nach Hause. Als sie abgeholt werden muss aber natürlich unbedingt unser On-Off-Nachbar mit seinem (neuen?) Kind natürlich unbedingt durchs Treppenhaus. Wildes Gebelle, schreiendes Kind, genervtes Ich, das immer noch verzweifelt die Leinen sucht und als die Situation nach zehn Minuten endlich aufgelöst ist, reichts mir. Ich lasse meine Chars ihre Weeklys fertig machen so gut es geht und beschließe, dass mein Priester der Disziplin vorerst mal abschwört. "Shadow passt aktuell viel besser zu deiner Stimmung.", hat Basti kurz vor der endgültigen Entscheidung eingeworfen und er hat recht. Irgendwann wird mein Priester nämlich meinem Dämonenjäger begegnen und dann sind sie das perfekte Blutelfenpaar aus Schatten und Rachsucht. Und für diese Pläne brauche ich auch kein Abitur. Dankeschön.
0.15 Uhr
Wir müssen uns ins Bett legen, weil Bastis Nacken aufs doppelte angeschwollen ist und meine Medis einfahren.
2.34 Uhr
"Was passiert denn hier?"
"Keine Ahnung, Bebi. Aber das sieht doch wenigstens mal Positiv aus."
"Ich freu mich jetzt nicht schon wieder zu früh. Lass uns den Wecker auf zehn stellen und dann sehen wir nach, okay?"
"Okay."
"Ich liebe dich, Bebi."
"Ich liebe dich, Bebi.
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