Not or Not
- FRAUENBARTH
- 30. Nov. 2024
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 20. Apr.
9.00 Uhr
Der Wecker klingelt. "Ich bin krank, Bebi."
"Scheiße."
"Ja. Geht's dir besser."
"Als heut Nacht ja, aber schlecht immer noch."
"Braucht uns nicht wundern nach der Woche."
"Stimmt."
Gestern Abend hatte er noch über mehrere Stunden schlimme Nierenkoliken. Das passiert, wenn der Stress zu hoch wird und wir noch zusätzlich streiten. Ich kriege dafür eine Instanterkältung mit Magen-Darm-Symptomatik. Ist halt so.
11.00 Uhr
"Schaffen wir es aufzustehen?"
"Müssen wir ja irgendwann. Wir müssen essen."
"Ja... stimmt."
Irgendwie quälen wir uns unter die Dusche und es wird ein bisschen besser, aber halt immer noch nicht toll. Könnte mich entschuldigen, will ich aber gerade nicht. Fühle mich zum Kotzen und will nicht nochmal streiten, wenn ich dann wieder was zickiges sage, weil ich mich zum Kotzen fühle, also schweige ich und warte auf einen besseren Moment. Wir müssen sowieso zusehen, wie wir uns irgendwie auf den Beinen halten.
"Was trainieren wir denn heute?"
"Beine."
"Ist das eine gute Idee?"
"Wir müssen unseren Kopf wieder in den Griff kriegen, sonst gehen die Körper immer weiter kaputt."
Er hat recht. Außerdem haben sich ja die Paradigmen im Gym diese Woche dezent verschoben und wir haben klargestellt, dass wir uns nicht auf den Kindergarten herablassen. Damit kann ich dahin wenigstens einigermaßen entspannt gehen und wir treffen dort ja auch einen Haufen tolle Menschen. "Was sollten wir uns von den paar einzelnen abfucken lassen?"
"Eben. Wie bei allem anderen auch."
Wir gehen los, mir ist schlecht, aber ich hab wenigstens 'ne Tasse Kakao runterwürgen können. Wie immer geht's schnell bei Rewe vorbei. Weihnachtssortiment kommt rein, der Laden läuft auf Hochtouren. Gute, motivierte Menschen dort. Deswegen gehen wir gern hin.
Im Studio entschuldigen wir uns nochmal schnell beim armen Knopf, der neulich unsere ganze Laune abbekommen hat und freuen uns, dass es dem Hund besser geht.
Basti geht an die Maschinen, ich mache ganz leichte Freiübungen, weil mehr aktuell nicht drin ist. Gewicht ist wieder deutlich unter 50kg gefallen und ich habe für den Moment die Hoffnung aufgegeben, dass sich das ändert.
In der Sonne ist es auf dem kleinen Fleckchen aufm Dach, an dem man an frischer Luft sine Übungen machen kann, ist es sogar richtig schön warm und ich freu mich über den letzten goldenen Novembertag und darüber, dass ich hier bin und mich bewegen kann. Auch wenn mein linker Rippenbogen irgendwie fünf Zentimeter vor meinem rechten ist und ich immer noch Mühe hab, meinem linken Bein zu sagen, was es bitte tun soll.
Ist mal alles ohne Drama, paar nette Gespräche und ich kann sogar einen Wohnungsschlüssel endlich wieder zurückgeben, weil wir uns zufällig übern Weg laufen und wir das irgendwie beide verpeilt hatten.
"Geht's dir besser?", frage ich ihn, als wir nach Hause gehen. "Ja. Klar merk ich das Knie jetzt stark, aber ja. Und dir?"
"Auch. Fühlt sich alles bissl freier an in Hüfte, Knien und Sprunggelenken. Nur S2 nervt."
Wir essen ein paar Gnocci und legen uns nochmal hin. Wir schauen uns ein paar Nachrichten an und gucken auf Insta, was es so an weltbewegenden neuen Trends und Meinungen gibt. "Mc Gregor ist verurteilt worden."
"Weswegen?"
"Vergewaltigung. Von vor sechs Jahren."
"Ah. Ja."
"Ja."
Wir haben so unsere Schwierigkeiten damit, die "großen Exempel" anzuprangern, wo dann viel Geld fließt. Dazu eine kleine Geschichte:
2019, Büro meiner Psychologin:
"Waren Sie bei der Polizei?"
"Öfter."
"Haben Sie Anzeige gestellt?"
"War beim Amtsgericht. Wegen einstweiliger Verfügung. Hat man mir abgeraten."
"Um die Situation nicht weiter anzufachen?"
"Richtig."
"War wohl auch die bessere Entscheidung."
"Vermutlich. Was, wenn ich jetzt noch was machen wollte?"
"Auf welcher Beweisgrundlage?"
"Stimmt..."
Anderes Beispiel:
SMS-Nachricht an einen Mann: "Du hast letztes Wochenende meine Schwester beim Feiern mit nach Hause genommen. Sie hat sich in dich verliebt. Wenn du nicht mit ihr zusammengehst, gehen wir zur Polizei und sagen, du hast sie vergewaltigt."
Die Sache hat sich natürlich im Sand verlaufen, weil es ja ganz schön dumm ist, mit sowas zu drohen und dann auch noch mit Textnachricht, aber ich kenne Fälle aus dem Bekanntenkreis meiner Familie, wo einem Mann eine Anschuldigung einer zurückgewiesenen Frau drei Jahre Haft beschwert hat.
"Und auch deswegen tu ich mir echt schwer, überhaupt irgendjemand irgendwie attraktiv zu finden.", stelle ich fest. "Bei den einen musst dir Sorgen machen, dass sie zu den Bullen rennen, wenn ihnen klar wird, dass sie nicht auf Dauer bleiben, die Infektionsraten gehen hoch, weil Kondome offenbar 'zu teuer' werden - btw Kinder kosten ja kein Geld, und außerdem drehen ja sowieso alle durch."
"Geht mir ja auch so, aber eigentlich sollten wir uns auch nicht davon abfucken lassen, sondern endlich mal unser Leben leben. Vielleicht spielen wir einfach wieder ein bisschen Not or Not* und sehen, was passiert. Da können wir wenigstens alles schriftlich vorab festhalten." "Ja... ich hasse Onlinedating so sehr... Aber du hast recht, kann vielleicht einen gewissen Schutz bieten."
"Und außerdem geht's ja eh nur drum, dass wir uns wieder für das Thema öffnen. Und jetzt: wo sind dein Kopfhörer? Ich möchte was ausprobieren."
Wir legen neben einander im Bett und halten unsere Kopfhörer in der Hand. "Okay. Zwanzig Minuten. Lass dich einfach mal drauf ein. Wenn du weinen musst, wein, wenn du schlafen musst, schlaf. Versuch einfach mal an nichts zu denken."
"Okay.", stimme ich zu.
Die Musik geht an und ich weine. Es ist schön. Wir sind im Frieden und lassen für den Moment einfach mal los. Jeder für sich, nebeneinander.
"Zeit aufzustehen, sagt meine Musik.", stellt er fest. "Was läuft denn bei dir?"
"The Browning. Ist gerade erst angegangen."
"Also auch für dich Zeit zum Aufstehen.", lacht er.
Hab ich übrigens schon lange nicht mehr gehört. Zur Zeit laufen entweder die Themes von LoL oder Arcane oder bosnischer, wahlweise kroatischer oder russischer Rap. Also eigentlich nichts, was Youtube jetzt als Anlass nehmen sollte, mir 'The Browning' um die Ohren zu schlagen. Aber okay. Dafür lief bei Basti im Studio heute 'The Aristokrat', was eigentlich eher meine Trainingsmusik wäre, aber auch nur, wenn ich ganz hart abgefuckt bin.
"Wie geht's dir jetzt?"
"Supi. Dir?"
"Viel besser."
"War 'ne gute Idee. Sollten wir zur Routine machen."
"Sollten wir."
"Zeit, den Adventskalender aufzubauen!"
Meine Eltern haben uns einen voll süßen Tütenadventskalender und einen Schokoladenkalender für Basti geschickt. Den kriegt er dann Morgen als Überraschung. Nach der scheiß Woche können wir ein paar Goodvibes gebrauchen.
Gegen acht gehen wir schnell einkaufen, Pfand wegbringen und was man halt Samstagabend so macht. "Nächste Woche? Weihnachtskarten?", rufe ich der Glitzerfee zu, als wir schon fast wieder auf der Rolltreppe stehen. "Lass uns nächste Woche gemeinsam Weihnachtskarten schreiben, ja?"
Ich schreib schnell den Blogbeitrag von gestern und will dann endlich mal in Ruhe zocken, aber mein neuer PC findet leider keine Verbindung mehr zur Fritzbox. Dann schon, dafür loggts BattleNet dauernd wieder aus. Also mache ich endlich den TikTok-Account für Frauenbarth und versuche, irgendwann mal in WoW zu kommen.
23.00 Uhr
"Okay, jetzt funktioniert's."
Wir gehen ein paar Dungeons mit meiner DK und meiner Magierin und ich komme schon viel besser klar, weil jetzt nicht mehr alles aussieht wie bei AlleyCat sondern wie in einem Fantasyspiel des 21. Jahrhunderts. Schon geil.
2.00 Uhr
"Guck, Frauenbarth hat jetzt TikTok."
Ich zeige ihm die REELS.
"Du bist ziemlich wütend, hm?"
"Du machst dir keine Vorstellung. Aber ich glaub, ich hab damit ein Medium gefunden, das einigermaßen progressiv zu nutzen. Mal sehen. Ich find's gut, dass wir unsren Lebensweg auf Dauer Kreativ gestalten. Ich freu mich schon drauf, wenn du deine Gitarre bekommst."
"Ich mich auch."
"Übrigens ist der erste Like für ein REEL von Frauenbarth von einem Parteimitglied der Jungen Union, find ich ja nett, dass er denkt, ihm würden meine Inhalte gefallen, aber glaub nicht, dass ich da tatsächlich so sehr für stehe... Na ja, TikTok ist ja eh ein noch böserer Ort als Facebook, aber immerhin stark an Reichweite."
*Wir klicken uns durch DatingApps und stellen fest, wem wir nicht schreiben wollen.
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