Schwebe
- FRAUENBARTH
- 2. Nov. 2024
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 3. Nov. 2024
"Weißt du, was ein schöner Gedanke ist?"
"Hm?" Ich schmiege mich enge an seinen warmen Körper. Seine Arme schlingen sich vorsichtig fester um mich. "Wir sind jetzt seit fünf Jahren zusammen. Und haben noch mindestens fünfzig gemeinsame vor uns. Das heißt, wir haben noch zehn mal so viel Zeit miteinander, wie wir bisher schon hinter uns haben und ich finde, das ist ein sehr schöner Gedanke."
Ich habe den Wecker nicht gehört, Gucci schlummert zufrieden an unserem Fußende und ich lasse mich einfach mal in den Tag treiben. Kein Stress heute. Kein Drama. Einfach nur sein.
Wir stehen auf, richten uns in Ruhe zusammen und holen uns mit Gucci gemeinsam Frühstück. Leider finden wir nicht so wirklich das richtige, dafür war die Entscheidung an einem Samstagvormittag zu Edeka zu gehen mal wieder falsch. Wissen wir ja eigentlich, aber offenbar sind wir lernresistent.
Wir genießen trotzdem unseren Spaziergang durch den Park und Wald und lassen uns die Laune nicht verderben. Das Sportzeug ist schon dabei und nachdem wir Gucci wieder zuhause abgegeben haben, möchten wir eigentlich ins Gym starten, aber irgendwie verlässt uns die Energie. Wir ärgern uns zur Abwechslung mal gar nicht drüber, sondern nehmen die Gegebenheiten an und ändern unsere Tagesplanung. Kurze Zeit später verschickt meine Todesjägerin Briefe an ihre Twinks. Erstens weil's Spaß macht und zweitens als Vorbereitung für eine gemeinsame Idee, die wir schon seit Jahren umsetzen wollten. Es kam immer irgendwas dazwischen, aber nachdem unsere Körper jetzt der Meinung sind, uns vorwiegend an unsere Wohnung zu binden (zumindest die nächste Zeit), ist jetzt wenigstens die perfekte Chance das umzusetzen. Sobald wir gesundheitlich auch stabil genug dafür sind.
Wir quatschen ein bisschen über uns, unsere Beziehung, die Welt, das Leben und kommen zu dem Schluss, dass wir den Stress jetzt rausnehmen. Wir sind Anfang 30. Es gibt keinen Ort, an dem wir gerade sein müssten. Nichts, was wir gerade tun müssen. Wir haben niemanden, der etwas von uns erwartet, außer wir selbst. Wir sind körperlich limitiert und wir haben in der Vergangenheit einiges erlebt, aber wir haben in der Vergangenheit einiges erlebt. Wir haben uns beide viel mit der Selbstfindung beschäftigt, wir wissen jetzt, was wir wollen und was wir nicht wollen und das Wichtigste: wir haben uns. Alles andere wird sich ergeben. Wir beschließen, uns jetzt die Zeit zu nehmen, gesund zu werden. Das dauert halt, solang es dauert. Und wir werden es auch nicht beschleunigen, in dem wir uns jeden Tag vorhalten, was wir nicht (mehr) können. Wir sind langsam bereit loszulassen und wirklich neu anzufangen, anstatt vor unserem alten Leben davon zu laufen.
Wir quälen uns gerade beide mit Appetitlosigkeit. Ich wegen meines Kopfes, er wegen der Schmerzen und der Medikamente. Das ist sehr blöd, weil wir beide leidenschaftliche Esser sind und uns dieser Umstand viel Lebensqualität nimmt. Um dagegen vorzugehen, hat mein Freund die passende Idee. "Was hältst du davon, wenn wir uns hier mal nach 'nem Asiaten umsehen? Vielleicht finden wir ja einen, wo man keinen Durchfall von kriegt."
Vor ein paar Monaten hatten wir eine ziemliche Pechsträhne mit Auswärtsessen und Essenbestellungen, da war uns irgendwie die Lust vergangen. Aber vielleicht ist es ja eine gute Idee, einem neuen Laden eine Chance zu geben. Ich google und finde einen kleinen Laden am Kurhaus, an dem wir eigentlich eh voll oft vorbeilaufen.
Wir biegen trotzdem eine Seitenstraße zu spät ein und drehen deswegen eine Ehrenrunde ums Kurhaus. "Schade eigentlich, dass die Gebäude hier so wenig saniert werden.", stelle ich mal wieder fest. Bad Homburg würde so viel hergeben und das tut es auf den ersten Blick auch. Schaust du dann aber genauer hin, wird der bröckelnde Putz an den Fassaden auffallen, die ungeputzten Fenster und die verlassenen Grundstücke. "Als wären wir in einer Scheinwelt gelandet."
Wir lieben es hier. Darum geht's nicht. Der Ort ist magisch. Es gibt wunderbare und auch ganz schreckliche Leute, wie überall halt. Wir denken auch, dass es sich in HG in Deutschland noch mit am besten Leben lässt, und gerade deswegen besorgen uns die Zustände, die über die nicht mal ganz zwei Jahre, in denen wir hier sind, deutlich schlimmer geworden sind. Die Gastronomien schließen und die kleinen Läden verschwinden aus der Fußgängerzone. Die Pfandflaschensammler werden immer jünger und die Kinder, die ohne Betreuung einfach wild umher irren immer mehr. Wir leben in schwierigen Zeiten.
"Einmal die 106 bitte."
"Und ich kriege gebratene Nudeln mit Tofu, bitte!"
"Mit Huhn, ja!"
"Ne, ne nicht mit Huhn. Mit TO-FU!"
"Jaja, genau! Zehn Minuten"
Wir wandern noch ein bisschen durch die Fußgängerzone. "Guck, gehen wir in den K-Shop, dann krieg ich noch meine Soße!", schlägt Basti vor und ich freu mich, dass wir mal was Neues machen. Das sag ich auch. "Letztes Mal als ich gefragt habe, wolltest du nicht reingehen."
"Oh ja, das kann sein."
Es ist als würde man in eine andere Welt treten. Von der urdeutschen Louisenstraße in eine lustige Animeserie mit echten Menschen, in der deutsche Teenies verarscht werden, weil sie leider nichts kaufen können, wo sie auch in ihrer Sprache lesen können, was drin ist. Irgendwie putzig.
Das Soßenregal ist riesig und nach reichlicher Überlegung hat er die passende gefunden. Wir nehmen noch ein paar Fertignudeln mit und holen dann unser essen ab.
Ich gehe rein, weil er grad den Küchengeruch nicht ertragen kann. Verstehe ich, wenn es einem schlecht geht, kann man das nicht gut tolerieren.
"Ich wollte die 106 und den gebratenen Reis mit Tofu abholen."
Die Dame schaut mich ein bisschen skeptisch an und guckt dann in die Tasche. Sie tauscht sich kurz mit ihrer Kollegin aus. "Es tut mir sehr leid, wir haben Nudeln gemacht."
"Ja, das wird schon passen."
"Tut mir wirklich sehr, sehr leid."
"Alles gut, solange kein Fleisch dran ist?"
"Nein, Tofu. Nudeln mit Tofu!"
"Ja, alles gut, super danke!"
Ich zahle, wünsch ein schönes Wochenende und berichte meinem Freund kurz darauf, dass er jetzt halt Nudeln essen wird. "Ja, das wollte ich ja auch."
"Ach gut, dann haben sie ja alles richtig gemacht."
Wir gehen nach Hause und setzen uns zum Essen hin, Basti kostet seine Soße und wird kreidebleich. "Da ist Knoblauch drin."
Ich wünsche dir, dass du nie in die Situation kommst, das nachvollziehen zu können, aber wenn du eigentlich Hunger hast, aber nichts essen kannst, dann Appetit auf etwas bekommst und dich sehr freust, dass du vielleicht wieder ein bisschen was runterkriegst und dann eine Geschmacksnote dabei ist, die deine Übelkeit wieder anschiebt, ist es ein ziemliches Scheißgefühl.
Den restlichen Tag verbringen wir in Schwebe.
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