Wachstum - Mehr als gefragt
- FRAUENBARTH
- 9. Nov. 2024
- 16 Min. Lesezeit
20.07 Uhr
"Na siehst, hast wenigstens wieder was zum Schreiben." Basti lächelt gequält. Joa und das an einem Tag, an dem ich eigentlich mal wieder nicht viel zu schreiben haben wollte, aber starten wir von vorn.
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Wildes Hupen gefolgt von einem lauten "Du Arschloch!" neben meinem Ohr lassen mich aus meinem Tilidinschlaf hochfahren. Gestern musste ich seit langem mal wieder auf Medis zurückgreifen, was zu einer Nacht voller Übelkeit und Erbrechen geführt hat und in diesem Moment dreht sich mir schon wieder der Magen um. "Was zum Teufel?"
Hup. Hup. Hup.
"Was ist denn mit dir los, du Vollidiot?" Mein Freund springt aus dem Bett auf und springt zum Fenster. Ich bin auch schneller auf den Beinen als gewollt und starre mit ihm auf den besch*ssenen schwarzen Wagen. "Das ist der sche*ß Arzt, weil wieder irgendjemand auf seinem dummen Parkplatz steht.", informiert Basti mich. "Ist mir egal, der hat sich seinen scheiß Dr. Honoris bestimmt im Internet gekauft und macht irgendwelchen Quatsch da drin.", pampe ich zurück. Keine Ahnung was der Mann wirklich macht und es ist mir auch herzlich egal, solange er mich nicht Samstagmorgens wach hupt, weil ich ja nicht mal ein Auto besitze, das ich auf seinen dummen Parkplatz stellen könnte.
"Na wenigstens sind wir jetzt wach.", stelle ich fest, nachdem ich ein bisschen über Ruhestörung geschimpft habe wie eine 80 Jährige und mich bei dem Gedanken erwische, eine Anzeige wegen Lärmbelästigung zu stellen. Ich bin einfach angepisst. Und mir ist schlecht, aber darüber will ich jetzt nicht nachdenken.
"Wie geht's dir, Bebi?"
Wir schauen uns an. Er steht. Ich stehe. Auf jeden Fall ein Fortschritt. Und es ist noch nicht mal zehn. "Besser. Ich glaube, die konnte mir wirklich helfen. Ich bin übelst fertig und mir tut alles weh, aber die krassen Schmerzen sind weg und ich kann wieder atmen."
Mir kommen die Tränen und ich nehme ihn in den Arm. "Ich hatte so eine Angst um dich, Bebi."
"Nicht nur du."
"Und ich konnte ja mit niemandem drüber reden und dir will ich ja auch nicht sagen, dass ich Angst habe, dass du..."
Ich vergrabe mein Gesicht in seiner Brust und er streichelt meine Haare. "Wie wär's, wenn wir uns nochmal hinlegen und Arcane weiterschauen?"
Seit 2021 warten wir auf die zweite Staffel. 3 Jahre des Wartens, Aushaltens und wir hatten schon die Hoffnung verloren, dass die überhaupt noch irgendwann erscheint. Gestern Abend haben wir dann bei Netflix gesehen, dass ab heute die ersten Folgen der neuen Staffel verfügbar sind und haben uns Season One nochmal angeschaut. Zumindest bis zur Hälfte, dann sind wir nämlich eingeschlafen.
"Ich kann jetzt die erste nicht zu Ende schauen. Ich warte schon viel zu lang auf diese Staffel.", stellt Basti fest und ich gebe ihm recht. Die letzten Wochen haben wir beide sehr viel von unserer Vergangenheit aufarbeiten können, einiges loslassen und noch enger zusammenfinden als zuvor. Es liegt eine harte Zeit hinter uns, viele schwere Jahre, viele schmerzhafte Monate und als wir dabei waren, unsere letzte Hoffnung zu verlieren, haben die Gucci-Leute uns einen Lichtblick geschenkt. Meinem Freund ging es mit seiner Rückenerkrankung sehr schlecht. Man mag sich nicht vorstellen, was das für Auswirkungen annimmt, wenn die Wirbelsäule Schäden hat und ich wünsche auch jedem, dass er sich keine Vorstellungen davon machen kann. Unser kleines Wunder geschah am Donnerstag bei Healing Hands in Frankfurt. Seither ist Basti ungefähr zehn oder fünfzehn Zentimeter größer. Zumindest kommt es mir so vor. Und wenn ich ihn küsse, muss ich nach oben schauen, was ich zuletzt nicht mehr musste... Also denke ich schon, dass da was dran ist. Als wir ins Bad tappen, bestätigt sich meine Annahme. Man sieht es auch an den Lagerregalen im Wohnzimmer, die er jetzt um ein paar Zentimeter überragt, anstatt sie ihn ein paar Zentimeter.
"Immer noch zu früh, von einer Besserung zu sprechen, aber ich finde, wir haben unser kleines Wunder schon."
Und passend dazu, zu unserem Neuanfang können wir endlich die nächste Staffel einer Serie schauen, die uns über viele schwierige Stunden getragen hat. Wir kuscheln uns wieder ins Bett und schon als das Netflix-Logo aufleuchtet, kommen mir erneut die Tränen. Ich drücke mich enger an seine Schulter. "Wird düster."
"War zu erwarten."
Wir hatten ja beide ein bisschen Sorge, dass sie die Serie nach so einer langen Wartezeit richtig verk*cken, aber der Auftakt ist gut und meine Tränen bedecken inzwischen seine ganze Brust. "Da ist es ja endlich, mein Mädchen.", sagt er und gibt mir einen Kuss auf den Kopf. Normalerweise entgegne ich darauf "Selber Schwuchtel" oder "Selber Handtuch" (wegen Southpark) und dann lassen wir das so stehen, aber heute sage ich, was an der Zeit ist, zu sagen: "Ja, ich glaub, jetzt hast du mich gebrochen. Ich flenne ganz schön oft in letzter Zeit, aber es ist anders als sonst. Gefühlstränen, keine Wut- oder Hasstränen. Ist neu."
"Gut so. Soll ich dir was sagen? Ich weiß doch schon seit fünf Jahren wer du bist. Und glaub nicht, dass ich dich für schwach halte. Im Gegenteil. Aber du kannst jetzt aufhören, auf hart zu spielen. Die Zeit ist vorbei. Lass uns wieder das machen, was wir können. Ich grenze ab und du bringst die Ruhe."
Es ist als hätten wir uns wiedergefunden, ohne uns je verloren gehabt zu haben. Wir haben beide eine Vorgeschichte. Sozial und in Beziehungen. Unsere Liebe war von Anfang an unbrechbar, aber jeder von uns hat hart an sich gearbeitet, um seine Altlasten abzubauen und manchmal sind wir deswegen auch ganz schön einander geraten. Wenn man aus zwei so unterschiedlichen Welten kommt, ist es manchmal schwer, den Standpunkt des anderen direkt nachvollziehen zu können, aber ich bin sehr froh, dass wir zu jeder Zeit und in jeder noch so dunklen Stunde darauf vertrauen konnten, dass der andere da ist, auch wenn er es gerade nicht verstehen kann.
Und ganz oft haben wir auch gar nicht erkannt, dass wir schon lang voneinander verstanden worden sind und haben uns deswegen mit Abgrenzungsverhalten auf Distanz gehalten, um nicht doch eine Enttäuschung für den anderen zu sein. Gut, dass wir das nach fünf Jahren endlich ablegen konnten. Jetzt kann unsere Freiheit beginnen.
Wir schauen die ersten drei Folgen, weil mehr noch nicht da sind und ich weine auch die ganze Zeit.
"Wie wär's, wenn wir uns 'ne Pizza gönnen?"
"Find ich 'ne gute Idee."
"Jap, aber von Dominos, da kriegen wir wenigstens auch was Gescheites ohne Fleisch."
Wir stehen auf und spielen ein bisschen mit unseren Twinks. Sie sollten heute noch Level 80 werden. Nach dem zweiten Dungeon wollen wir bei Dominos bestellen, aber die sind vom 9. bis zum 15. nicht da. Heute ist der 9. Gut, wenigstens haben wir ja endlich Arcane anschauen können und sind absolut begeistert. Egal, dann halt bei PizzaExpress bestellen und per Anmerkung hinzufügen, dass kein Käse und keine anderen tierischen Inhaltsstoffe drin sein dürfen. Ist ja bei Bestellungen via Lieferando nicht so das Problem und hat in der Vergangenheit auch meistens funktioniert. Pizza klingt nach 'ner wirklich guten Idee. Ich hab seit Mittwoch wieder ziemlich schlecht gegessen und an meiner Dose Ravioli von gestern Abend habe ich immer noch zu tun... Könnte vielleicht ein bisschen den Appetit anregen. Habe mich so über meine 53kg gefreut, dass ich die eigentlich nicht gleich wieder verlieren will.
Zwischendurch kommt eine Nachricht an, dass Gucci um sieben kommt und ich habe mit meiner Mama schon gestern vereinbart, dass wir heute telefonieren, aber weil wir so spät aufgestanden sind und jetzt aufs Essen warten, verschiebe ich den Anruf auf später. Wir gehen noch schnell zwei Dungeons und als wir gerade fertig sind, ruft der Lieferfahrer an. Das Handy liegt irgendwo an der anderen Ecke des Schreibtischs und bis ich dran gehe, hat ist der Anruf schon beendet. Ich rufe direkt zurück, doch der erneute Anruf blockiert meine Durchwahl. Ich gehe hin und am anderen Ende höre ich erstmal gar nichts. "Barth, hallo?"
"PizzaExpress! Ich bin seit zwei Minuten unten!", pampt der Typ mich an. Ich versuche die Fassung zu bewahren, schließlich habe ich ja seinen Anruf nicht direkt angenommen. Basti wirft mir einen Blick zu. Ich greife nach dem Geldbeutel und renne zur Tür. "Nixi Trinkgeld, für Arschlochis.", rufe ich ihm nur kurz zu und will schon runterrennen. Ich bin noch nicht zur Tür raus, da steht er schon hinter mir. "Was war?"
"Ach, er war nur recht unhöflich, weil er wohl schon seit zwei Minuten vor der Tür steht."
"Gut.", entgegnet Basti, öffnet seine Hand, um den Geldbeutel entgegen zu nehmen und springt die Treppe nach unten. Tatsächlich ist es besser für den Fahrer, wenn er geht, so hat er zumindest die Chance auf Trinkgeld, weil mein Freund bei schlechter Arbeit weniger impulsiv reagiert wie ich. Und man muss ja nicht immer streiten.
Ich gehe ins Wohnzimmer zurück und sehe meine hübsche Magierin an. Ganz süß, das kleine Füchschen. Noch nicht so stark, aber ich weiß auch nicht damit umzugehen.
"Gib mir dein sche*ß Handy!"
"Was?"
"Der Affe ist nicht da!"
"Wie?"
"Na es ist weder am Hinterhof jemand noch vor dem Haus."
"Nicht sein ernst?"
Wir brauchen weitere fünf Minuten bis wir den unhöflichen Typ erreicht und zur richtigen Adresse gelotst haben. Ich stehe inzwischen oben an der Wohnungstür und höre zu. Er weißt ihn darauf hin, dass man seiner Frau gegenüber nicht unhöflich zu werden hat und nachdem der Typ das diskutieren anfängt, geht er dann letztendlich doch ohne Trinkgeld nach Hause, kriegt aber dennoch seinen Euro für die Lieferung. Ich bin wirklich angepisst, weil wir kurz zuvor ein Gespräch darüber geführt hatten, dass wir eigentlich nur unsere Ruhe haben wollen, nett zu Menschen sein, denen wir begegnen und ein harmonischer Umgang mit unserer Umwelt wäre uns einfach lieber, aber wir sind halt auch nicht bereit, uns noch länger um des lieben Fake-Friedenswillens auf der Nase herumtanzen zu lassen.
Basti ist ebenfalls auf 180 als er wieder hochkommt. Das mag einem als Kleinigkeit erscheinen, aber wenn die vielen Kleinigkeiten zusammenkommen, läuft das Fässchen halt irgendwann mal wieder.
"Ich weiß nicht, ob ich jetzt noch essen kann. Ich bin so wütend*.", ruft Basti und das ist ein echtes Problem. Er hat 15 Kilo abgenommen und erst seit der Behandlung bei der Osteopathin vor zwei Tagen kann er überhaupt wieder ein bisschen was essen, ohne, dass ihm direkt schlecht wird.
"Und ich bin sicher, dass ich nichts essen können werde."
"Warum? Auch zu wütend?"
"Nein, ich hab's einfach im Gefühl, dass sie das mit dem Käse verk*ackt haben."
Das Gewicht der zwei Pizzakartons und des kleinen Salats erschien mir zu hoch für den gefragten Inhalt.
"Ne, des werden sie schon geschafft haben. Wofür gibt es sonst dieses besch*ssene Notizfeld?"
"Mal gucken."
Ich öffne den ersten Karton und sehe eine dick mit Käse belegte Pizza. Könnte seine sein. 50/50. Bevor ich den Deckel wieder schließe, um die andere anzusehen, frage ich rhetorisch: "Wolltest du Extra-Oliven? Jetzt hast du welche. Guten Appetit."
"Nicht dein ernst, oder?"
"Doch. Ich schreibe eine Beschwerde. Mir reicht's langsam."
Er wird richtig verzweifelt. "Bebi, ich geh gleich los. Bitte, ich hol dir wo anders eine Pizza." Er ist schon wieder so im Stress, dass er fast umfällt. "Ist doch alles gut! Ich esse meine Ravioli fertig. Sonst müsste ich sie eh wegwerfen. Wäre doch blöd. Und dann hast du Pizza für morgen."
"Ich glaube, ich kann nie wieder Pizza essen."
Ich beschwere mich bei PizzaExpress über die Falschlieferung und den Fahrer und hasse mich dafür, schon wieder eine nörgelnde alte Tante zu sein. Aber wenn ich nichts sage, stehe ich trotzdem ohne Essen da und bin mal wieder nicht für mich eingestanden. Selbst schuld, würden die Leute ihre Arbeit richtig machen, müsste ich die letzten Wochen auch nicht dauernd irgendwo anrufen oder Mails schreiben. Das ist ja früher auch nicht passiert. Heutzutage kannst ja nicht mal mehr im Edeka einkaufen, ohne vom Rentnerkaufhaus-Cop verfolgt zu werden. Wir sehen vielleicht ein bisschen lustig aus mit unserem Style und manchmal mit unseren Schmerzen und den dazugehörigen Medis wohl auch recht fertig, aber das ist immer noch kein Grund für so ein offensiv aggressives Verhalten, vor allem wenn man schon mehrmals drauf hingewiesen wird, dass das langsam belästigend wird. Geht doch eure verf*ckten Kameras durch und schaut mal, wer sich da drin wirklich die Taschen voll macht, anstatt den Leuten aufn Sack zu gehen, deren Gassiroute nur zufällig am Edeka vorbeiführt und es halt dann schlau ist, da schnell was zum Trinken mitzunehmen. Wird einfach irgendwann peinlich auch. Uns kennen hier ja auch einige Leute. Aktuell sind wir zwar krank geschrieben, aber wir haben ja dennoch schon unseren Kundenstamm. Da macht es sich zusätzlich nicht gut, wenn man dann im Einzelhandel hingestellt wird, als wäre man eine beobachtungswürdige Person, zumal uns das halt auch in keinem anderem Laden außer in dem passiert und wir sind recht viel im Einzelhandel unterwegs. Wie du vielleicht schon gemerkt hast, habe ich eine gewisse Passion für einige Branchen und dazu zählen die Gastro und der Einzelhandel und wenn man dann da so furchtbar fehlbesetzte Leute drin hat, fühl ich mich persönlich gestört. Wirklich. Ich verstehe ja, dass man heutzutage irgendwie auch nehmen muss, was man kriegt, aber auf der anderen Seite wäre es manchmal vielleicht doch besser, die Stelle unbesetzt zu lassen oder Maschinen reinzustellen. Wäre auch eine Idee fürs Fitnessstudio. Da haben sie ja die Digitalisierung schon angefangen, was zwar leider unser Angebot als Member irgendwie drastisch verschlechtert, aber auf der anderen Seite verhalten sich einige der Mitarbeiter da ja auch so daneben, dass die neuen Drehkreuze auf jeden Fall die angenehmer Begegnung sind. Schade, dass man sich das Leben absichtlich immer so schwer machen muss. Zum Fitnessstudio wird's die nächsten Wochen wohl noch ein paar Neuigkeiten geben. Die letzte Zeit war das Training ja auf ein Minimum reduziert, da hat es auch keinen Sinn gemacht, sich großartig damit oder ob wir noch dort bleiben wollen, zu beschäftigen. Nachdem da aber auch ansonsten einiges ist, was uns sauer aufstößt und Basti seinen Vertrag als Teamleader ja auch aus guten Gründen nicht verlängert hat, werden wir uns jetzt ernsthaft überlegen, ob das noch das richtige für uns ist. Hab 'ne ganz schön lange Liste, die ich anbringen könnte. Die Frage vom Office steht schon im Raum, jetzt liegt es an uns, damit umzugehen. Ich bin kein rachsüchtiger Mensch und ich glaube an Karma. Früher oder später kriegt jeder was er verdient, aber wenn du mir ganz so direkt auf der Nase rumtanzt, kann ich das halt irgendwann trotz aller Freundlichkeit nicht ignorieren. Und es geht halt eben auch nicht nur um mich. Ich habe zugesehen, wie mein liebster Mensch auf der Welt leiden musste, wie ich ihn nicht verteidigen oder vor der Situation schützen konnte und wie er jeden Tag noch mehr in sich zurückzog, weil ihm außen rum alles zu viel wurde. Den körperlichen Zustand wollen wir hier mal nicht erwähnen, denn der kam eher von den Bedingungen und dem ungeregelten Ablauf. Fazit: Ich war wütend, so wütend, dass ich dieses dumme Fitnessstudio nicht mehr betreten wollte. Aber dann kommt mir wieder mein Opa in den Sinn mit: "Was schert es ein Eiche, wenn sich ein Schwein dran schabt" und er hat recht. Warum sollte ich mich über die kleinen Mädchen aufregen, die in ihrem Leben nichts haben außer ihre gegenseitigen Intrigen. Dafür bin ich einfach zu alt und möchte da auch rausgehalten werden.
Wir sind beide total angepisst und meine Magierin ist immer noch nicht Level 80. Bis sie das ist, fluchen wir ein bisschen vor uns hin und ich esse ein oder zwei Ravioli.
18.40 Uhr
"Gucci kommt gleich. Ich zieh mich noch schnell um. Kann nicht schon wieder im Krümelmonster runtergehen. Das ging letzte Woche noch, aber inzwischen ist zu viel Hafer und Paul spucke drauf."
'Waschen würde auch helfen.', denke ich, hab aber heute keine Lust drüber nachzudenken. "Ja, ich komm auch mit runter! Ich muss mich auf jeden Fall bedanken. Schau mal, wie ich aufstehen kann!"
18.58 Uhr
"Ich glaub, sie sind da. Hab Gucci schon gehört, meine ich."
Wir gehen zur Tür und mein Handy klingelt. Gucci-Gruppenanruf. Ich gehe ran: "Hi, wir sind da!" "Ja, ich weiß! Wir sind schon auf dem Weg!"
Ich schmeiße mir noch schnell den schweren schwarzen Parker über, weil wir beschlossen haben, mit Gucci noch kurz unseren Samstagsabend-Rewe-Besuch zu machen. Als sie ankommt ist sie nicht so lustig wie sonst. Sie kommt ohne Leine und rennt nicht wie sonst direkt die Treppen nach oben, sondern schleicht immer wieder zwischen unseren Beinen hindurch. Irgendwas stimmt heute nicht. Vielleicht habe ich sie mit meinem großen Parker erschreckt. Der war noch offen, als ich die Treppe runtergeeilt bin und verleiht mir dann das Aussehen einer riesigen Fledermaus. Kann schon gruslig sein. Ich bringe schnell ihr Zeug nach oben, weil sie für eine Woche braucht und sie kommt auch mit, rennt aber gleich wieder mit runter, anstatt erstmal ihre Patrouille zu machen und nachzusehen, wer sonst noch im Haus ist. Komisch. Und nach der Sache mit Aqua neulich will ich wirklich kein Risiko eingehen. Es ist schon dunkel und ich brauche dieses Jahr keine Hundejagd mehr.
Ich lege meinen Parker ab und versuche mich ein bisschen ruhiger zu setten. Die Laune ist von der Pizza noch ein bisschen gedrückt und Gucci ist ein Sensibelchen. Sie will dann immer alles richtig machen und nicht im Weg sein. Das Problem ist, dass sie sich dann aufführt, als würde man sie schlagen, wenn sie nicht sofort und ganz genau tut, was man von ihr verlangt, auch wenn man gar nichts von ihr verlangt und dann kommt sie in Hyperstress. Sie ist aus Rumänien und man merkt einfach das krasse Trauma, das da noch immer in ihr brütet. Heute scheint es besonders schlimm zu sein. Der Hund läuft als wäre er aus Gips.
Basti quatscht unten noch mit den Guccileuten und lobt die Osteopathin und kann seinen Dank gar nicht genug ausdrücken. Diese Leute haben uns tatsächlich eine neue Chance geschenkt. Auf Leben. Hausarzt und Fachärzte waren die letzten Monate ratlos. Der Zustand wurde zusehends schlechter, die Psyche hatte es langsam schwer, noch gegenzuhalten und es war zwischendurch so schlimm, dass ich wirklich Angst hatte, er erstickt im Bett neben mir. Trotz der vollen Ladung an Schmerzmitteln. Das wünsche ich keinem. Der Liebe des Lebens zuzusehen, wie der Körper zerbricht. Vor allem wenn so ein starker Geist darin wohnt. Anfangs hatten wir schon damit zu tun, uns irgendwie mit dem Gedanken an den Rollstuhl ab in zehn oder zwanzig Jahren abzufinden, nachdem sich das Symptombild so schnell so drastisch verschlechterte und seit der Physio täglich noch weiter bergab ging, war der Rollstuhl schon wieder ein angenehmerer Gedanke als ein Grab. Krass, wie schnell man sich etwas wünschen kann, dass man zuvor gefürchtet hat.
Und heute bin ich trotz der ganzen kleinen Umstände, dem mehr als gefragtem extradickem Käse auf meiner Pizza, die bestimmt lecker schmecken würde, aber auch dazu führen würde, dass ich die nächsten sechs Wochen vermutlich in einer Ethoskrise verhängen würde und mindestens die nächste Woche kotzen müsste. Alles andere erspare ich hier mal lieber, weil es nicht schön ist, wenn man versehentlich mal wieder tierische Produkte erwischt, wenn der eh schon stark beschädigte Körper eine rein pflanzliche Kost gewohnt ist. (Ja, mir ist bewusst, dass Dosenravioli und Pizza nicht gesundheitsförderlich sind, aber es sollte ja inzwischen schon klar geworden sein, dass es primär erstmal darum geht, überhaupt wieder in ein normales Essverhalten zu kommen.)
Gucci steht jetzt neben mir an der Glastür und starrt nach draußen. Sie hat einen ganz verrückten Ausdruck in den Augen und ohne Leine wird die mir heute sicherlich gar nichts mehr hingehen.
Basti verabschiedet sich, ich winke und nehme Gucci am Geschirr, während ich Basti von innen die Tür öffne, damit ich auch wirklich auf Nummer sicher gehen kann. Er schlüpft durch und fragt. "Was hat sie?"
"Keine Ahnung. Verrückt mal wieder. Guck in die Augen."
"Ja, dann gehen wir jetzt schnell Gassi und dann beruhigt sie sich bestimmt."
Aber sie beruhigt sich nicht. Sie ist immer noch steif und festgehalten, nachdem wir uns zu ihr hingesetzt und sie in Ruhe begrüßt haben. "Gehen wir erstmal noch mal mit ihr hoch.", schlägt Basti vor. Sie schleicht weiterhin wie eine scheue Katze durchs Haus und verkriecht sich dann auf der Rudelmatratze unter einer Decke. "Was ist denn los mit dir, Mausi?"
Wir legen uns zu ihr und streicheln sie, bis sie ein bisschen entspannter ist. "So, können wir jetzt noch ein bisschen raus?"
Sie steht auf und geht mit, aber sie ist nicht, wie sie sonst ist. Wir reden nicht mehr über die Pizza, damit wir nicht weiter schlechte Stimmung verbreiten, sondern schlagen fröhlichere Themen an, doch so wirklich helfen tut das auch nicht.
Sie ist überbrav im Park und wartet anständig mit mir im Rathaus vorm Rewe, während Basti noch schnell ein paar Versorgungen macht. Ich unterhalte mich kurz mit unserer Glitzer-Einhorneinzelhändlerin, die unser Partywochenende ersetzt und dafür immer für ein bisschen Glam und Blingbling sorgt. Wenn man schon in der Nachbarschaft von Frankfurt wohnt, wenigstens das. Zum Ausgehen sind wir zu alt. Oder zu krank. Wer weiß das schon.
Wir unterhalten uns kurz und ich sehe schon, wie mich eine der älteren Frau an der Kassenschlange ins Auge fasst. Also weniger mich. Mehr Gucci. Juhu, da haben wir ja genau die passende Laune, Gucci und ich. Nicht richtig gegessen bei der einen, Trauma ballert bei der anderen und damit das perfekte Gesprächsopfer für ältere Katzenladies, die gerne mal ein bisschen hochprozentiges Kippen. Manche unserer Hundefreunde ziehen sowas einfach an und offenbar gehört Gucci im Stress dazu. Hoffentlich beginnt die Alte nicht zu weinen, wie mir das sonst mit Püppi passiert. Hab ich heute keinen Nerv für.
Kann mal vorkommen, dass ich irgendwo mit 'nem Hund stehe und warte. Vor Edeka - nicht mehr, vor Rewe oder Hit oder irgendnem anderen Laden und dann kommen zwangläufig Menschen auf einen zu. Und man führt Gespräche. Und jeder Hund hat eine andere Wirkung auf Menschen. Dudu und die Granddame sind zum Beispiel super mit allen Arten von Depressionen. Da finden die guten Zugang und die Leute kommen und erzählen, während die einfach nur drumrumschwänzeln oder schnuppern oder ignorieren. Ganz egal. Aber die Öffnen da was. Gucci ist sehr speziell, deswegen hat man mit ihr auch sehr spezielle Begegnungen. Alle Altersstufen und sie ist auch gut mit jedem. Nur eben mit sich selbst manchmal nicht. Und Püppi... wenn man mit Püppi unterwegs ist, kann man davon ausgehen, dass man mindestens hundert Katzen-, Hunde- und Kaninchenfotos sieht. Und viele Tränen, weil alte Leute halt viel Zeit hatten, viele Tiere zu überleben.
Ich drücke unser Powerpuffgirl zum Abschied nochmal, wünsche ihr eine schöne weitere Schicht und danach ein erholsames Wochenende und sehe sie gleich darauf wieder hinter ihrer Kasse verschwinden.
Basti taucht zwischen den Regalen auf und die Alte, die uns zuvor schon ins Visier genommen hat, steuert auf uns zu und lobt die Gucci-Ohren, weil sie so toll groß sind. Ich sehe mir Katerbilder an und bewundere den schönen Knaben. Ist er wirklich. Silvertabby anmutend mit weißem Latz, sehr schöne Zeichnung und ausdrucksstarke grüne Augen. Gucci darf sich die Bilder auch anschauen, aber sie findet das jetzt nicht so interessant. Wenigstens hat sie keine Angst vor unserer neuen Bekanntschaft. Ist ja schonmal was.
"So, ich muss jetzt leider los. Ich muss meinem Freund sein Abendessen kochen!", verabschiedet sich die Alte und schleift ihren Trolley hinter sich zur Rolltreppe. "Vielleicht sehen wir uns ja bald mal wieder! Tschüss, Gucci!"
Kurz darauf kommt Basti auch schon mit einer vollen Tüte aus dem Laden. Achja, Samstag, genau.
Wir gehen nach Hause und Gucci verzieht sich in ihr Bett. Sie mag jetzt erstmal schlafen und das ist okay. "Wollen wir noch einen Dungeon machen?"
"Klar."
Wir loggen gerade ein, da klingelt Bastis Handy. "Gucci-Gruppenanruf! Warum denn das?"
"Keine Ahnung! Geh einfach ran, vielleicht haben sie was vergessen."
Er geht ran, doch der Anruf bricht ab. "Ich ruf einfach schnell bei ihr an, ich glaube, er fährt."
"Hey Basti, alles gut? Haben wir was vergessen?", höre ich aus seinem Handy. "Nee, alles gut, aber ich hatte gerade einen Gruppenanruf und konnte den nicht annehmen. Ich dachte, ihr wolltet uns erreichen?"
"Nein nein, ich habe vorher in der Gruppe angerufen, als wir Gucci gebracht haben.", höre ich seine Stimme. "Ja, dann war das bestimmt irgendeine komische Überschneidung! Sorry nochmal und einen schönen Urlaub, ihr Lieben!"
20.07 Uhr
"Na siehst, hast wenigstens wieder was zum Schreiben." Basti lächelt gequält. "Ja, mal ehrlich, würden wir uns einen Psychologen suchen und dem einmal die Woche nur Stichpunkte erzählen, würde er uns einweisen lassen, weil er denken würde, wir bilden uns das alles nur ein."
"Ganz sicher."
"Kann einem ja auch gar keiner glauben, diesen ganzen Quatsch, der dauernd passiert."
"Stimmt."
"Und ja, du hast recht. Deswegen gibt es Frauenbarth."
"Ich glaub, wir sollten den Tag heut einfach beenden, Bebi. Lass uns zu Gucci rüber kuscheln und nochmal Arcane schauen.
Das machen wir und dann noch einen Film, den ich nicht mehr wirklich mitkriege, weil Gucci schlechte Träume hat und anscheinend vier oder fünf mal in einer Zeitschleife festhängt und unseren Trost braucht. Ich denke, es ist so vier als sie sich beruhigt hat und endlich ruhig schlafen kann.
*Hier ein kleiner Hinweis aus Sicht als Ernährungsberaterin: Emotionen und Essverhalten können stark miteinander korrelieren. Wir sind beide nicht essgestört, auch wenn wir unser Thema damit haben. Unser Essverhalten erklärt sich aus anderen primären Schwierigkeiten und Erkrankungen. Wenn eine Phase mit Hunger und Appetit dann durch negativ erlebte Gefühle abgelöst wird, ist das für uns aktuell eine akute Zusatzbelastung, die uns weiter in eine Abwärtsspirale zieht.
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