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Schlechtes Gewissen

Wollte noch einen halben Tag frei. Aber hatte dann doch ein schlechtes Gewissen.


7.00 Uhr

Der Wecker klingelt. Ich knurre, drücke auf Schlummern und fauche meinen Freund an: "Ich hätte diesen halben freien Tag wirklich gebraucht."

"Haste was gelernt: Mach mir kein schlechtes Gewissen, mach ich dir keins."

"Toll und im Endeffekt sind wir jetzt beide dran. Aufstehen. Aufräumen."


Ich hatte eigentlich vor, unseren Praktikanten Matthias heute erst mittags antreten zu lassen, weil wir abends eh immer länger brauchen und ich dann noch ein paar Stunden freigehabt.


Nach den letzten Wochen fühl ich mich wie eine Mischung aus Gummi und Beton mit integriertem Faraday-Käfig in der Lendenwirbelsäule, dem linken Knie und den Waden, der mehr als Impulsgeber als Schutz zu funktionieren scheint. Eine falsche Bewegung und das Gewitter bricht los. Meistens trag ich das mit Fassung, ich bin ja inzwischen dran gewöhnt, aber aktuell bringt's mich dann doch ab und an wieder zum Schreien.

Ich schlucke meine Wut und bin auch direkt wieder versöhnlicher, weil mein Freund aufsteht und Schlaf- und Wohnzimmer aufräumt, während ich mich um Küche und Wäsche kümmere. Danach machen wir uns fertig und dann steht Matthias auch schon vor der Tür.


Dass das jetzt so ist und nicht so wie ich mir das vorgestellt hab, liegt daran, dass ich gestern Abend nicht allein einkaufen gehen wollte, weil ich generell keine Lust hatte und Basti auch nicht. Also waren wir zusammen. Geteiltes Leid ist doppeltes Leid und das führen wir heute fort.


"Lass ihn doch am Vormittag anfangen. Er wartet doch drauf, dass er herkommen kann." - "Ja, aber es sind ja eh keine Hunde da heute Vormittag." - "Dann kann er wenigstens mal in Ruhe die anderen Sachen anschauen und seine Schulsachen vorbereiten."


Nicht, dass es leidig wäre mit Matthias. Im Gegenteil: Er gibt sich viel Mühe, bringt eigene Ideen ein, ist zu jeder Zeit freundlich und kommt bei den Kunden gut an. Die Hunde finden ihn auch super und gerade die älteren Hundedamen scheinen eine besondere Connection zu ihm zu haben.



Übungen

Wir starten seinen Praktikumstag mit einer kleinen Lerneinheit, die ich für ihn erstellt habe. Es gibt eine Aufgabe zur Rassekunde mit einem kleinen Text zum Labrador, weil heute Luca anreisen wird und das thematisch gut passt. Ich hab's als Mischung aus Leseübung, einfacher Fachtheorie und freiem Schreiben zur Erweiterung der selbstständigen Sprachverwendung gesetzt - aber vergessen Textmarker bereitzulegen.


Außerdem kommen schon anfangs ein paar Fragen zur Nischenbildung, Genetik und Zucht auf und ich kann mal mein Thieme-Ernährungskompodium auf den Tisch schmeißen. Das ist mit über tausend Seiten schon recht eindrucksvoll, aber Matthias braucht daraus nur ca. 4 Seiten. Er ist erstmal mit lesen beschäftigt, also gehe ich einkaufen, während Basti für weitere Fragen zur Verfügung steht, freue mich über den fast freien Vormittag und darüber, dass ich die Zeit habe, bei Tedi meiner Lieblingskassiererin mit dem Kleingeld auszuhelfen, weil ich mir inzwischen meine alten Gastrogeldbeutel mitnehme, damit ich auch mal bei Bargeldzahlungen rausgeben kann. Ist nämlich immer ein bisschen peinlich wenn man sagen muss: "Oh, Entschuldigung, jetzt hab ich gar kein Wechselgeld..."

Mein mühsam gesammeltes Kleingeld werd ich trotzdem nicht arg vermissen, weil man in der Tierpflege nicht unbedingt mit Cent-Beträgen arbeitet und Scheine meistens ausreichend sind. Der schöne Nebeneffekt unserer Geldwechsel-Maßnahme ist natürlich auch, dass wir ein paar Minuten Zeit für Smalltalk haben. Zum Schluss sind ihre Fächer wieder gefüllt, mein Geldbeutel ist ein bisschen leichter und ich freu mich, weil ich mich noch gut an das Gefühl im Einzelhandel erinnere, wenn das Klimpergeld langsam zur Neige geht und man nicht schon wieder eine neue Rolle opfern will - kostet ja schließlich alles Geld.


Als ich zurück bin geht's immer noch um Hunderassen und der Info, dass die Textabschnitte schon gelesen und in Teilen besprochen sind. "Gut! Dann schauen wir mal weiter. Wollt ihr Frühstück?"


Der Vormittag plätschert so dahin, der Gassitermin heute fällt doch aus, dafür erwarten wir Luca um 12.15 Uhr und der kommt immer pünktlich. Wir freuen uns riesig, Matthias lernt erstmal den Hund kennen und danach geht's in die Pause.


Auch wir machen mal Pause und als Matthias zurück ist, geht es mit seinen Arbeitsblättern weiter. Es stehen noch Aufgaben zur Desinfektion und Reinigung, Öffentlichkeitsarbeit, Rechenaufgaben zur Ermittlung von Futtermengen, Biologie und Englisch an. Als alles erstmal bearbeitet ist und wir mit Luca eine Gassirunde gedreht haben, darf er sich noch eine Stunde auf Englisch mit ChatGPT unterhalten und ich sehe im Nachgang, dass er sich schon immer mehr traut, selbst Worte zu schreiben. Das freut mich und ich hoffe, dass ich so den Schulstress ein bisschen abfangen kann, den wir bisher zwar noch thematisiert haben, der aber relativ offensichtlich da ist. Danach wird geputzt und um sechs haben wir noch einen Termin mit einem Neukunden. Matthias will gern noch da bleiben und das Gespräch mitbekommen, obwohl er eigentlich schon lang Feierabend hat und ich lasse ihn, weil er gern hier zu sein scheint und offenbar möglichst schnell alles lernen will. Pausezeiten haben wir ja eingehalten und zuhause wissen sie ja Bescheid wo er sich rumtreibt.


Der Termin läuft gut und wir freuen uns darauf, den Hund auch bald kennenzulernen. Wann genau erfahren wir dann am Wochenende.


Meine Officearbeit ist komplett liegen geblieben, ich bin schon seit Montag im Verzug, aber das Abendgassi mit Luca steht noch aus und ich möcht ja auch ein bisschen Zeit mit meinem Freund verbringen, also mach ich relativ zeitnah so gegen zehn Feierabend und zocke ein bisschen World of Warcraft mit ihm. Wir starten mal wieder das Projekt "Gilde" und hoffen, dass es besser läuft als beim letzten Mal. Aber wir haben ja dazu gelernt.

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Runa, 2025

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Warum das Tagebuch eines Anderen lesen?

Einfache Antwort: Perspektivenwechsel

Weiterführende Antwort: 
Habe mich so ein bisschen selbst in der Zeit verloren und sehe, dass ich damit nicht allein bin.

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Wenn alles sich ändert, wer bin ich dann und wo stehe ich?

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